Stone Girl

überhaupt das Gewicht einer Zigarette halten. Ihre Finger stehen so weit auseinander, dass Sethie glaubt, eine Zigarette würde sowieso einfach durch sie hindurchfallen. Es sind leblose Finger und für einen Moment wünscht sie sich, Alice würde ihre Hände stillhalten, damit sie ihre danebenhalten und sie Seite an Seite betrachten könnte. Sethies Hände sind rosig, voller Leben, die von Alice blau und tot. Aber Alice bewegt sich trotzdem, ihre Finger krümmen sich um die Zigarette und heben sie vom Boden auf.
    Sethie lächelt entschuldigend. Vor der Tür der Krankenstation zögert sie kurz und beobachtet Alice, wie sie zum Ausgang geht. An Alices Magerkeit ist nichts Zartes, sie ist nicht grazil oder schön, wie Sethie es gerne sein würde. Hinter Alices Magerkeit, hinter dem Anblick ihrer Knochen, die gegen ihre Haut um Raum, um Sichtbarkeit kämpfen, kann man die Anstrengung erkennen. Unter ihrem T-Shirt zeichnet sich ihre Wirbelsäule deutlich ab.
    Sethie hat sich immer schon klar definierte Schulterblätter gewünscht. Sie kann Stunden damit verbringen, Fotos von Schauspielerinnen in schulterfreien Kleidern zu bewundern und sich zu überlegen, wer von ihnen die schönsten Schulterblätter hat. Die von Alice treten wie Flügel aus ihrem Rücken hervor. Sethie fragt sich, ob ihr die Stellen, wo die Knochen gegen die Haut drücken, wohl wehtun.
    Alice wird es kalt werden, denkt Sethie und wendet sich wieder zur Krankenstation um. Bevor sie rausgegangen ist, hat sie sich keinen Mantel geholt. Andererseits, überlegt Sethie und neigt den Kopf, raucht Alice ihre Zigaretten meistens recht schnell, hungrig irgendwie, gierig. Also wird sie nicht lange draußen bleiben.

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    Die Krankenschwester lächelt, als Sethie hereinkommt. Sie kennt das schon, dass Sethie bei ihr vorbeischaut. Manchmal kommt Sethie mittags zum Plaudern her und bleibt die ganze Pause lang. Egal, was einem fehlt, die Krankenschwester antwortet immer, dass es am ausgelassenen Frühstück liegen muss. Sethie fragt sich oft, warum sich die Krankenschwester anscheinend gar keine Sorgen darüber macht, dass Sethie dauernd das Mittagessen verpasst.
    Die Krankenschwester fragt nicht weiter nach, als Sethie sagt, sie brauche eine Pause vom Tag der Gesundheit. »Ich schätze, ich habe mich über die Ferien nicht genug ausgeruht«, erklärt Sethie und die Krankenschwester nickt mitfühlend.
    Auf der Station sind vier Liegemöglichkeiten eingerichtet, ein Stockbett und zwei schlichte Einzelbetten. Sethie klettert in das obere Stockbett, das die Krankenschwester für die älteren Mädchen reserviert. Es steht an einer Wand, die über und über mit Artikeln beklebt ist, von denen die Krankenschwester glaubt, sie seien hilfreich für heranwachsende Mädchen. Es geht um Sex und Verhütung, Gruppenzwang und Menstruationszyklen. Außerdem gibt es Abbildungen zu der Frage, wie man ein Kondom überstreift, wie ein Tampon eingeführt wird und wie man sich am besten die Brust abtastet. Und natürlich kleben auch hier überall Artikel zu Essstörungen, die Kate Moss die Schuld an der starken Zunahme der Magersucht geben und Bulimie einer schlechten Erziehung zuschreiben. Artikel, die der Modeindustrie Schuld an dem weit verbreiteten Phänomen einer anorexen Selbstwahrnehmung geben und eine gesunde Selbstwahrnehmung nur für möglich halten, weil es Models gibt, die fit und gesund aussehen.
    Über die Jahre hat Sethie jeden einzelnen Artikel gelesen und keinen gefunden, der mit einer Diagnose hätte aufwarten können, die auf sie gepasst hätte. Keiner davon gibt eine Antwort darauf, ob man auch magersüchtig ist, wenn man seinen Körper nur von Zeit zu Zeit aushungert, und sie sagen auch nicht, ob man Bulimie hat, wenn man sich nur ab und an übergibt. Und natürlich würden sie auch nicht gelten lassen, dass manche Mädchen vielleicht nur deswegen magersüchtig oder bulimisch werden, weil sie es hassen, dick zu sein und sich so zu fühlen, und nicht, weil sie schlechte Eltern haben oder die ganze Zeit irgendwelche Trash-Zeitschriften lesen. Das Einzige, was Sethie die Lektüre dieser Artikel je gebracht hat, sind Tipps für die Optimierung ihrer Diät: In einem wird ein Mädchen zitiert, das erzählt, sie würde nie auch nur eine Mahlzeit einnehmen, ohne vorher eine Tasse Kaffee zu trinken, damit sich schon vorab ein Sättigungsgefühl bei ihr einstelle. In einem anderen wird die Geschichte eines Mädchens mit Bulimie erzählt, das immer als Erstes sehr farbige