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Stoner: Roman (German Edition)

Stoner: Roman (German Edition)

Titel: Stoner: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Williams
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aufgequollener Teig; ihre Glieder wurden schwabbelig, träge und unbeholfen. Dabei aß sie kaum mehr als früher, entwickelte aber eine Vorliebe für Süßigkeiten und hatte stets eine Schachtel mit Bonbons auf ihrem Zimmer; es war, als hätte sich in ihr etwas gelockert, wäre weich und hoffnungslos geworden, als hätte sich eine letzte Gestaltlosigkeit in ihr gewehrt, hätte sich freigemacht und dann ihr Fleisch überredet, seiner dunklen, geheimen Existenz äußere Form zu verleihen.
    Stoner beobachtete diese Verwandlung mit einer Trauer, die das gleichgültige Gesicht, das er der Welt zeigte, Lügen strafte. Er verbot sich den allzu leichten Luxus eines schlechten Gewissens, denn in Anbetracht seines eigenen Wesens und der Umstände seines Lebens mit Edith gab es nichts, was er hätte tun können. Dieses Wissen vervielfachte seine Trauer, wie es kein schlechtes Gewissen je vermocht hätte, und ließ die Liebe, die er für seine Tochter empfand, noch suchender, noch tiefer werden.
    Sie gehörte, das wusste er – und hatte es, nahm er an, auch schon sehr früh gewusst –, zu jenen seltenen, stets liebenswerten Menschen mit einer delikaten moralischen Natur, die ständig genährt und umsorgt werden musste, damit sie sich erfüllen konnte. Obwohl seine Tochter der Welt fremd war, musste sie dort leben, wo sie sich nicht daheim fühlte; nach Zärtlichkeit und Ruhe verlangend, hatte sie mit Gleichgültigkeit, Herzlosigkeit und Lärm auszukommen. Sie war von einem Wesen, das an diesem ihm abwegigen, feindlichenOrt, an dem es zu leben hatte, nicht über die nötige Brutalität verfügte, sich gegen jene grausamen Kräfte wehren zu können, die sich ihm widersetzten, weshalb Grace sich bloß in eine Stille zurückzuziehen vermochte, in der alles einsam, klein und auf besänftigende Weise ruhig war.
    Sie war siebzehn und machte in der ersten Hälfte ihres letzten Jahres an der Highschool eine weitere Verwandlung durch. Es war, als hätte sie für ihr Wesen ein Versteck gefunden und könnte sich nun endlich der Welt offenbaren. So rasch, wie sie zugenommen hatte, verlor sie das drei Jahre zuvor gewonnene Gewicht auch wieder, und für jene, die sie kannten, schien es eine fast magische Verwandlung zu sein, so als schlüpfte sie aus einem Kokon in eine Welt, für die sie wie geschaffen schien. Sie war beinahe schön; sie, die zu mager und dann plötzlich zu dick gewesen war, hatte nun eine zarte, gefällige Figur und bewegte sich mit leichter Anmut. Ihre Schönheit war von einer passiven, fast beschaulichen Art, das Gesicht nahezu ausdruckslos, eine Maske, aus der hellblaue Augen direkt hervorschauten, ohne Neugierde und ohne die Befürchtung, dass jemand tiefer in sie hineinblicken könnte; ihre Stimme war weich, ein wenig tonlos, doch redete sie nur selten.
    Recht unvermittelt wurde sie – um es mit Edith zu sagen – ›populär‹. Oft klingelte das Telefon, und dann saß sie im Wohnzimmer, nickte ab und zu, antwortete leise und kurz; Autos fuhren an dämmrigen Nachmittagen vor und nahmen sie mit sich fort, anonym im Gelächter und Stimmengewirr. Manchmal stand Stoner am Fenster, sah die Automobile in Staubwolken davonjagen und spürte leichte Sorge, aber auch ein wenig Bewunderung; er hatte nie einen Wagen besessen und nie gelernt, einen zu fahren.
    Und Edith war zufrieden. »Siehst du?«, erklärte sie in kühlem Triumph, als wären keine drei Jahre seit ihrer wilden Attacke auf Grace’ Probleme mit der ›Popularität‹ vergangen. »Siehst du? Ich hatte recht. Sie hat nur einen kleinen Schubser gebraucht. Aber Willy fand das gar nicht gut. Oh, das habe ich ihm angesehen. Willy findet so etwas ja nie gut.«
    Seit einer Reihe von Jahren hatte Stoner jeden Monat einige Dollar beiseitegelegt, damit Grace, wenn die Zeit gekommen war, von Columbia fort und auf ein College gehen konnte, vielleicht eines, das weiter entfernt lag, etwa an der Ostküste. Edith hatte über diese Pläne Bescheid gewusst und schien mit ihnen einverstanden gewesen zu sein, doch als es so weit war, wollte sie nichts mehr davon hören.
    »O nein!«, sagte sie. »Das könnte ich nicht ertragen! Mein Baby! Wo sie sich doch im letzten Jahr so gut entwickelt hat! Ist jetzt so populär, so glücklich. Sie würde sich wieder anpassen müssen und – »Baby, Gracie, mein Baby«, sie hatte sich an ihre Tochter gewandt, »Gracie will eigentlich gar nicht weg von ihrer Mommy, nicht? Will sie doch nicht ganz allein lassen, oder?«
    Grace sah ihre Mutter

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