Stoner: Roman (German Edition)
Vorfälle gestärkt, wuchs die Legende, bis Anekdoten jede noch so banale Aktivität Stoners umrankten, und sie wuchs, bis sie auch sein Leben außerhalb der Universität berührte. Schließlich schloss sie sogar Edith ein, die bei Universitätsanlässen so selten mit ihm gesehen wurde, dass man sie für eine beinahe mysteriöse Gestalt hielt, die wie ein Gespenst in der Fantasie der Leute spukte: Sie trank insgeheim aus obskurem Kummer; sie starb langsam an einer seltenen, doch stets tödlichen Krankheit; sie war eine unglaublich talentierte Künstlerin, die ihre Karriere aufgegeben hatte, um allein für Stoner da zu sein. Auf öffentlichen Veranstaltungen blitzte ihr Lächeln so rasch und nervös aus ihrem schmalen Gesicht auf, funkelten die Augen so hell und redete sie so schrill und unzusammenhängend, dass jedermann davon überzeugt war, der äußere Schein verberge eine andere Wirklichkeit, eine andere Person stecke hinter der Fassade, an die niemand glauben konnte.
Nach seiner Krankheit und infolge einer Gleichgültigkeit, die für ihn zur Lebensart wurde, begann William Stoner immer mehr Zeit in jenem Haus zu verbringen, das er sich vor so vielen Jahren mit seiner Frau gekauft hatte. Anfangs war Edith von seiner Anwesenheit so irritiert, dass sie sich stumm verhielt, beinahe als müsse sie über ein Rätsel nachdenken. Kaum war sie schließlich davon überzeugt, dass seine Anwesenheit Nachmittag um Nachmittag, Nacht um Nacht, Wochenende um Wochenende von Dauer sein würde, begann sie den alten Krieg mit neuem Schwung. Aus banalstem Anlass weinte sie verzweifelt und schlich durch die Räume, doch Stoner schaute sie nur teilnahmslos an undmurmelte zerstreut einige Worte des Mitgefühls. Sie schloss sich in ihrem Zimmer ein und kam stundenlang nicht wieder zum Vorschein; Stoner kümmerte sich um die Mahlzeiten, die sie ansonsten zubereitet hätte, und schien, wenn sie schließlich hohlwangig und blass um die Augen wieder aus dem Zimmer kam, ihre Abwesenheit gar nicht bemerkt zu haben. Bei der geringsten Gelegenheit machte sie sich über ihn lustig, doch schien er sie kaum zu hören; sie verwünschte ihn lauthals, und er lauschte mit höflichem Interesse. War er in ein Buch vertieft, nutzte sie dies, um ins Wohnzimmer zu gehen und wie verrückt auf dem Klavier herumzuhämmern, auf dem sie ansonsten kaum noch spielte; und wenn er sich leise mit seiner Tochter unterhielt, fiel Edith wütend über einen von ihnen oder sie beide her. Doch Stoner kam all dies – ihre Wut, ihr Leid, das Geschrei und das hasserfüllte Schweigen – so vor, als widerführe es zwei anderen Menschen, für die er selbst bei bestem Willen nur ein recht flüchtiges Interesse aufbringen konnte.
Schließlich fand Edith sich müde und beinahe dankbar mit ihrer Niederlage ab. Die Wutanfälle verloren an Intensität, bis sie schließlich so flüchtig wurden wie Stoners Interesse an ihnen; und Ediths Schweigephasen führten zu Rückzügen in eine Privatsphäre, für die Stoner sich längst nicht mehr interessierte, statt zu Beleidigungsattacken gegen seine gleichmütige Haltung.
In ihrem vierzigsten Jahr war Edith Stoner noch ebenso schlank, wie sie es als junges Mädchen gewesen war, doch verriet ihre Haltung die Härte und Sprödigkeit einer unbeugsamen Haltung, die jede Bewegung aussehen ließ, als fände sie nur zögerlich und widerwillig statt. Die Gesichtsknochen traten deutlicher hervor, und die dünne, fahle Haut spanntesich wie über einen Rahmen, sodass selbst scharfe Falten straff gezogen wurden. Edith war sehr blass und trug so viel Puder und Make-up auf, dass es aussah, als schüfe sie ihre Gesichtszüge jeden Tag auf neutraler Maske neu. Nichts als Knochen schienen unter der trockenen, festen Haut ihrer Hände zu liegen, die sich unermüdlich bewegten, zwirbelten, pflückten oder sich zusammenballten.
Sie war stets verschlossen gewesen, wurde in ihren mittleren Jahren aber immer unnahbarer und abwesender. Nach einem kurzen Zwischenfall, der letzten Attacke auf Stoner, die mit verzweifelter Intensität geführt wurde, zog sie sich wie ein Gespenst in sich selbst und an einen Ort zurück, von dem sie nie wieder ganz hervorkommen sollte. Sie begann, mit sich selbst in jenem sanften, vernünftigen Ton zu reden, wie man ihn Kindern gegenüber anschlägt; und sie tat dies so offen und ohne alle Scham, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Von den diversen künstlerischen Bemühungen, mit denen sie sich während ihrer Ehe ab und
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