Stoner: Roman (German Edition)
einen Moment still an, wandte sich dann leicht zu ihrem Vater um und schüttelte den Kopf. Zu ihrer Mutter sagte sie: »Wenn du möchtest, dass ich bleibe, dann bleibe ich natürlich.«
»Grace«, sagte Stoner. »Hör mir zu. Wenn du gehen willst, bitte, wenn du wirklich gehen willst …«
Sie sah ihn nicht wieder an. »Es ist egal«, sagte sie.
Ehe Stoner darauf antworten konnte, begann Edith sich auszumalen, wie sie das von Stoner gesparte Geld für eine neue Garderobe ausgeben würden, einer wirklich hübschen, vielleicht sogar für ein kleines Auto, damit Grace und ihreFreundinnen … Und Grace lächelte ihr kleines, träges Lächeln, nickte und sagte dann und wann ein Wort, als würde es von ihr erwartet.
Damit war es abgemacht, und Stoner sollte nie erfahren, was Grace wirklich empfand, ob sie blieb, weil sie es wollte, weil ihre Mutter es wünschte oder weil sie eine große Gleichgültigkeit gegen ihr eigenes Schicksal empfand. Im Herbst ging sie an die Universität von Missouri, wo sie mindestens zwei Jahre studieren würde. Wenn sie wollte, konnte sie ihr Studium dann außerhalb von Missouri beenden. Stoner sagte sich, dass es so besser war, besser für Grace, besser, das Gefängnis, dessen sie sich kaum bewusst zu sein schien, noch weitere zwei Jahre zu ertragen, statt erneut auf die Folterbank von Ediths hilflosem Willen gespannt zu werden.
Also änderte sich nichts. Grace bekam ihre Garderobe, lehnte den kleinen Wagen ab, den Edith ihr schenken wollte, und begann als Erstsemester an der Universität von Missouri. Das Telefon klingelte weiterhin, dieselben Gesichter (zumindest schienen sie dieselben zu sein) tauchten lachend und lärmend an der Haustür auf, und dieselben Automobile jagten in die Dämmerung davon. Grace blieb noch öfter fort als während ihrer Zeit auf der Highschool, und Edith freute sich über das, was sie für die wachsende Beliebtheit ihrer Tochter hielt. »Sie ist ganz die Mutter«, sagte sie. »Die war vor ihrer Heirat sehr populär. All diese Jungen … Papa war deswegen richtig wütend, insgeheim aber auch sehr stolz, das habe ich ihm angemerkt.«
»Ja, Edith«, sagte Stoner sanft und spürte, wie sich ihm das Herz zusammenzog.
Es war ein schwieriges Semester für Stoner, da es ihm diesmal oblag, die universitätsweiten Zwischenprüfungen inAnglistik zu leiten, und ihn zugleich zwei besonders schwierige Doktorarbeiten beschäftigten, die ihm beide in außerordentlichem Maße zusätzliche Lektüre abverlangten, weshalb er häufiger von zu Hause fortblieb, als es in den letzten Jahren seine Gewohnheit gewesen war.
Gegen Ende November kam er eines Abends später als gewöhnlich nach Hause. Das Licht im Wohnzimmer war aus und das Haus still, weshalb er annahm, dass Grace und Edith bereits schliefen. Er brachte einige Papiere in sein kleines Hinterzimmer, da er im Bett noch lesen wollte, und ging dann in die Küche, um sich ein Sandwich zu machen und ein Glas Milch zu trinken. Gerade hatte er das Brot geschnitten und die Kühlschranktür geöffnet, als er einen durchdringenden, messerscharfen, in die Länge gezogenen Schrei hörte, der von unten zu kommen schien. Er rannte ins Wohnzimmer, als er, offenbar aus Ediths Atelier, einen zweiten Schrei hörte, diesmal kurz und in seiner Heftigkeit regelrecht wütend. Rasch durchquerte er das Zimmer und riss die Tür auf.
Edith lag lang ausgestreckt auf dem Boden, als wäre sie hingefallen; die Augen blickten wild, und der Mund stand offen, bereit, den nächsten Schrei auszustoßen. Am anderen Ende saß Grace in einem gepolsterten Sessel, die Beine übereinandergeschlagen, und blickte gelassen auf ihre Mutter. Eine einzige Lampe brannte, Ediths Werktischlampe, und tauchte den Raum in harsches Licht und tiefe Schatten.
»Was ist los?«, fragte Stoner. »Was ist passiert?«
Als wäre ihr Kopf nur auf einem lockeren Drehgestell befestigt, wandte Edith sich mit leerem Blick zu ihm um und klagte in seltsam zänkischem Ton: »Ach, Willy. Ach, Willy«, um ihn dabei unverwandt anzusehen und kaum merklich mit dem Kopf zu wackeln.
Er wandte sich Grace zu, die unverändert ruhig wirkte und ihm im Plauderton eröffnete: »Ich bin schwanger, Vater.«
Wieder ertönte der Schrei, durchdringend und unfassbar wütend; sie drehten sich beide zu Edith um, die von einem zum anderen schaute, die Augen über dem schreienden Mund abweisend und kühl. Stoner ging durch das Zimmer, beugte sich zu ihr hinab und half ihr auf; sie hing in seinen Armen; er
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