Stoner: Roman (German Edition)
weiß, das Gesicht zerfurcht, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Die Schwerhörigkeit, die in dem Sommer nach dem Ende seiner Affäre mit Katherine Driscoll begonnen hatte, wurde Jahr um Jahr schlimmer, weshalb er, wenn er jemandem zuhörte, den Kopf schief legte und sein Gegenüber so aufmerksam musterte, als sinnierte er über eine rätselhafte Spezies nach, die er nicht ganz einzuordnen wusste.
Diese Schwerhörigkeit war übrigens etwas eigenartig, denn obwohl er oft Mühe hatte, denjenigen zu verstehen, der unmittelbar vor ihm stand, konnte er manchmal eine am anderen Ende eines lärmenden Saales gemurmelte Unterhaltung in aller Deutlichkeit hören. Durch diesen Trick erfuhr er so auch nach und nach, dass man ihn an der Universität – um es mit einem in seiner Jugend geläufigen Wort zu benennen – für einen Kauz hielt.
Immer wieder konnte er die weidlich ausgeschmückteGeschichte hören, wie er vor einer Schar Erstsemester Mittelenglisch unterrichtete, bis Lomax schließlich kapitulieren musste. »Und ratet mal, welches Seminar am besten abgeschnitten hat, als die Erstsemester des Jahrgangs siebenunddreißig die Grundprüfung Englisch abgelegt haben?«, fragte widerstrebend ein junger Dozent, der den Einführungskurs Englisch gab. »Natürlich die Mittelenglischmeute vom alten Stoner. Und wir strampeln uns immer noch mit Übungsheften und Handbüchern ab!«
Stoner musste zugeben, dass er in den Augen der jüngeren Dozenten und älteren Studenten – die offenbar kamen und gingen, noch ehe er mit ihren Gesichtern einen Namen verbinden konnte – zu einer beinahe mythischen Gestalt geworden war, mochte die Funktion dieser Gestalt auch noch so veränderlich und unterschiedlich sein.
Manchmal war er der Bösewicht. In einer Version, die zu erklären versuchte, wie es zu dieser langen Fehde zwischen ihm und Lomax kam, hatte er eine junge Doktorandin verführt und sitzen gelassen, für die Lomax eine lautere und ehrenwerte Liebe hegte. Manchmal war er der Narr: Einer anderen Version derselben Geschichte zufolge weigerte er sich, mit Lomax zu sprechen, weil Lomax einmal kein Empfehlungsschreiben für eine von Stoners Doktorandinnen ausgestellt hatte. Und manchmal war er der Held: In einer letzten, aber nicht allzu oft akzeptierten Version wurde er von Lomax gehasst und nicht befördert, weil er Lomax dabei ertappt hatte, wie dieser einer seiner Lieblingsstudentinnen eine Kopie der Prüfungsfragen für einen von Stoners Kursen gab.
Die Legende wurde auch von seinem Verhalten in den Seminaren genährt. Mit den Jahren wirkte er immer abwesender,zugleich aber hellwach. Vorlesungen und Gespräche begann er zögerlich und umständlich, vertiefte sich dann jedoch so rasch ins Thema, dass er nichts und niemanden mehr um sich her wahrzunehmen schien. Einmal war ein Treffen mehrerer Mitglieder des Universitätskuratoriums sowie des Präsidenten der Universität in jenem Konferenzzimmer anberaumt, in dem Stoner sein Seminar über den Einfluss des Lateinischen abhielt; man hatte ihn über dieses Treffen informiert, doch hatte er es wieder vergessen, weshalb er sein Seminar zur gewohnten Zeit am gewohnten Ort abhielt. Das Seminar war etwa zur Hälfte herum, als furchtsam an die Tür geklopft wurde. Stoner, der gerade eine wichtige Lateinpassage frei übersetzte, hörte nichts. Nach wenigen Augenblicken ging die Tür auf, und ein kleiner, rundlicher Mann mittleren Alters mit randloser Brille kam auf Zehenspitzen herein und tippte Stoner leicht auf die Schulter. Ohne aufzublicken, winkte Stoner ihn fort. Der Mann zog sich zurück, und man hörte ihn mit mehreren Personen vor der offenen Tür flüstern. Stoner ließ sich in seiner Übersetzung nicht beirren. Dann kamen vier Männer herein, angeführt vom Präsidenten der Universität, einem großen, gewichtigen Mann mit imposantem Brustkasten und kräftig rotem Gesicht; wie eine Abordnung marschierten sie zu Stoners Tisch und blieben davor stehen. Der Präsident runzelte die Stirn und räusperte sich laut. Ohne in seiner Übersetzung zu stocken oder innezuhalten, blickte Stoner auf und sprach dem Präsidenten und seiner Entourage die nächste Gedichtzeile mit sanfter Stimme direkt in die Gesichter: »Hinfort, hinfort, ihr verfluchten Hurensöhne Galliens!« Immer noch ohne zu stocken, richtete er danach den Blick wieder ins Buch und übersetzte weiter, während das Häufleinentsetzt rückwärtstaumelte, sich keuchend umdrehte und nach draußen floh.
Durch solche
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