Stoner: Roman (German Edition)
an befasst hatte, entschied sie sich letztlich für die Bildhauerei, da diese sie am stärksten befriedigte. Meist modellierte sie mit Ton, arbeitete gelegentlich aber auch mit weichem Stein; Büsten, Figuren und Standbilder aller Art gab es über das ganze Haus verteilt. Edith war eine sehr moderne Künstlerin; die von ihr modellierten Büsten glichen minimal gestalteten Kugeln, die Figuren waren Tonklumpen mit angefügten Verlängerungen und die Standbilder beliebig zusammengestellte Kompositionen von Kuben, Kugeln und Stangen. Kam Stoner an ihrem Atelier vorbei – jenem Raum, der früher sein Arbeitszimmer gewesen war –, blieb er manchmal stehen und hörte ihr beim Arbeiten zu. Sie erteilte sich Anweisungen wie einem Kind: »Nun, das muss hier hin – aber nicht zu viel davon –, so,mitten in diese kleine Rille. Ach, guck, jetzt ist es abgefallen. War wohl nicht feucht genug, wie? Was soll’s, das kriegen wir wieder hin. Nur ein bisschen mehr Wasser und – geht doch. Siehst du?«
Sie gewöhnte sich an, mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der dritten Person zu reden, so als spräche sie mit jemand anderem. Zu Stoner sagte sie etwa: »Willy sollte jetzt lieber seinen Kaffee austrinken; es ist schon fast neun Uhr, und er will doch nicht zu spät zur Universität kommen.« Oder sie redete auf ihre Tochter ein: »Grace übt wirklich nicht oft genug. Mindestens eine Stunde Klavier am Tag, zwei wären besser. Was wird denn sonst nur aus deinem Talent? Eine Schande ist das, eine Schande.«
Stoner wusste nicht, was dieser Rückzug für Grace bedeutete. Auf ihre Weise gab sie sich ebenso distanziert und verschlossen wie ihre Mutter. Das Schweigen war ihr zur Gewohnheit geworden, und auch wenn sie für ihren Vater stets ein scheues, sanftes Lächeln übrig hatte, redete sie doch kaum ein Wort mit ihm. Im Sommer seiner Krankheit war sie, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, in sein kleines Zimmer geschlichen, hatte sich zu ihm gesetzt und mit ihm aus dem Fenster gesehen, offenbar ganz zufrieden damit, nur bei ihm zu sein, aber selbst dann blieb sie schweigsam und wurde unruhig, wenn er versuchte, sie aus sich herauszulocken.
Im Sommer seiner Krankheit war sie zwölf Jahre alt, ein großgewachsenes, dünnes Mädchen mit sanftem Gesicht und weichem, eher blondem als rotem Haar. Im Herbst, während Ediths letzter heftiger Attacke auf ihren Mann, ihre Ehe, auf sie selbst und das, was sie geworden zu sein glaubte, verhielt sich Grace beinahe reglos, so als spürte sie, dass siebei der geringsten Bewegung in einen Abgrund fallen könnte, aus dem sie es nie wieder herausschaffen würde. Als die Heftigkeit der Auseinandersetzungen nachließ, beschloss Edith mit der für sie typischen selbstgewissen Rücksichtslosigkeit, dass Grace sich nur so still verhielt, weil sie sich unglücklich fühlte, und dass sie sich unglücklich fühlte, weil sie bei ihren Klassenkameraden nicht besonders beliebt war. Die versiegende Energie ihres Angriffs auf Stoner übertrug sie nun auf einen Angriff, der sich gegen Grace’ ›gesellschaftliches Leben‹ richtete. Wieder einmal fand sie ›Interesse‹ an etwas, zog ihrer Tochter knallige, modische Kleider an, die mit ihren Rüschen nur Grace’ Magerkeit betonten, gab Partys, spielte Klavier und bestand mit strahlender Miene darauf, dass alle Kinder tanzten; außerdem forderte sie Grace unablässig auf, doch jeden anzulächeln, zu reden, zu scherzen und zu lachen.
Diese Attacke dauerte nicht einmal einen Monat, dann gab Edith ihren Feldzug auf und trat die lange, langsame Reise dorthin an, wohin auch immer sie ging. Die Wirkungen ihrer Attacke auf Grace standen jedoch in keinerlei Verhältnis zu ihrer Dauer.
Sobald ihre Mutter sie wieder in Ruhe ließ, verbrachte Grace nahezu die gesamte Freizeit allein auf ihrem Zimmer und hörte Musik aus jenem kleinen Radio, das ihr vom Vater zum zwölften Geburtstag geschenkt worden war. Reglos lag sie auf dem ungemachten Bett oder saß ebenso bewegungslos an ihrem Tisch und hörte den Klängen zu, die blechern aus dem verschnörkelten Lautsprecher des gedrungenen, hässlichen Geräts auf ihrem Nachttischchen drangen, als wären Stimmen, Musik und Gelächter alles, was von ihrer Identität geblieben war, und als würde selbst dies weit fortin einem Schweigen ausklingen, in dem es auf immer verloren ging.
Und sie wurde dick. Zwischen jenem Winter und ihrem dreizehnten Geburtstag nahm sie fast fünfzig Pfund zu, das Gesicht so trocken und aufgedunsen wie
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