Stoner: Roman (German Edition)
ersetzen. Nicht, dass ich mich über Sie persönlich ärgere, aber …« Er wandte sich von Stoner ab und sah zum hohen Fenster am anderen Ende des Büros. Das Licht fiel direkt auf sein Gesicht, betonte die Falten und vertiefte die Schatten unter den Augen, weshalb er einen Moment lang alt und krank aussah. »Ich wurde 1860 geboren, kurz vor dem Rebellionskrieg, an den ich mich natürlich nicht erinnern kann; ich war noch zu klein. Ich kann mich auch nicht an meinen Vater erinnern; er wurde im ersten Kriegsjahr in der Schlacht von Shiloh getötet.« Rasch blickte er zu Stoner hinüber. »Doch kann ich die Folgen sehen. Ein Krieg tötet nicht bloß einige Tausend oder Hunderttausend junger Männer. Er tötet etwas in einem Volk, das nie mehr wiederbelebt werden kann. Und wenn ein Volk genügend Kriege mitmacht, bleibt schließlich nur noch das Biest übrig, jene Kreatur, die wir – Sie und ich und andere wie wir – aus dem Schlamm heraufbeschworen haben.« Er schwieg einen Moment, dann lächelte er ein wenig. »Der Gelehrte sollte nicht gebeten werden, das zu zerstören, was er sein Leben lang aufzubauen versucht hat.«
Stoner räusperte sich und erwiderte zögerlich: »Alles scheint so schnell zu geschehen. Irgendwie habe ich nie daran gedacht, bis ich von Finch und Masters gefragt wurde. Es kommt mir immer noch nicht ganz real vor.«
»Ist es natürlich auch nicht«, sagte Sloane. Rastlos wandte er sich dann von Stoner ab. »Ich werde Ihnen nicht sagen, was Sie tun sollen. Ich sage nur: Es ist Ihre Entscheidung. Es wird eine Einberufung geben, aber Sie könnten davon ausgenommen werden, falls Sie dies wollen. Sie haben doch keine Angst zu gehen, oder?«
»Nein, Sir«, antwortete Stoner. »Ich denke nicht.«
»Dann haben Sie die Wahl, und Sie müssen sie allein für sich treffen. Dabei versteht sich von selbst, dass Sie – sollten Sie sich entscheiden, zur Armee zu gehen – bei Ihrer Rückkehr in Ihre jetzige Stellung übernommen werden. Entschließen Sie sich aber, nicht zu gehen, können Sie bleiben, werden deshalb jedoch keine Vorteile genießen. Es ist sogar möglich, dass es Ihnen zum Nachteil gereicht, sei es heute oder später.«
»Ich verstehe«, sagte Stoner.
Es folgte ein langes Schweigen, bis Stoner entschied, dass Sloane offenbar mit ihm fertig war. Doch gerade als er aufstand, um das Büro zu verlassen, begann Sloane noch einmal zu sprechen.
Bedächtig sagte er: »Sie müssen daran denken, was Sie sind und wofür Sie sich entschieden haben, an die Bedeutung dessen, was Sie tun. Es gibt Kriege, Niederlagen und Siege der menschlichen Spezies, die nicht militärischer Natur sind und in den Annalen der Geschichte nicht verzeichnet werden. Denken Sie daran, während Sie sich zu entscheiden versuchen.«
Zwei Tage lang ging Stoner nicht zum Unterricht und sprach mit niemandem, den er kannte. Er blieb auf dem kleinen Zimmer und rang mit seiner Entscheidung. Bücher und Stille umgaben ihn; nur selten drangen die Geräusche der Außenwelt zu ihm vor, die fernen Laute rufender Studenten, das rasche Geklapper eines Einspänners auf der gepflasterten Straße, das dumpfe Tuckern eines der gut ein Dutzend Automobile der Stadt. Er hatte nie zur Nabelschau geneigt und fand die Aufgabe, sich über seine Motive klar zu werden, schwierig und auch ein wenig unangenehm; er merkte, dasser sich selbst kaum etwas zu bieten hatte und dass es in ihm wenig gab, das er finden konnte.
Als er schließlich zu einer Entscheidung gelangte, war ihm, als hätte er von Anfang an gewusst, wie sie ausfallen würde. Er traf sich am Freitag mit Masters und Finch und sagte ihnen, dass er nicht gegen die Deutschen kämpfen werde.
Gordon Finch, noch immer vom Tugendüberschwang getrieben, erstarrte und ließ zu, dass sich ein Ausdruck vorwurfsvollen Kummers auf seinem Gesicht breitmachte. »Du enttäuschst uns, Bill«, sagte er mit belegter Stimme. »Du enttäuschst uns alle.«
»Sei still«, sagte Masters. Er musterte Stoner aufmerksam. »Ich habe mir bereits gedacht, dass du dich so entscheiden könntest; du hast schon immer etwas Asketisches, Passioniertes gehabt. Natürlich ist es egal, aber was hat dich letztlich zu dieser Entscheidung bewogen?«
Einen Moment lang antwortete Stoner nicht. Er dachte an die letzten beiden Tage, an das stille Ringen, das kein Ende zu finden und keine Bedeutung zu haben schien, dachte an sein Leben an der Universität während der letzten sieben Jahre, an die Jahre davor, die fernen Jahre mit den
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