Stoner: Roman (German Edition)
Sloane wandte sich von Stoner ab, um einige Papiere auf seinem Tisch umzusortieren.
Also begann Stoner, wo er angefangen hatte, ein hochgewachsener, hagerer, gebeugter Mann, in demselben Raum, in dem er als hochgewachsener, hagerer, gebeugter Junge Worte vernommen hatte, die ihn dorthin führten, wo er heute war. Nie betrat er den Raum, ohne einen Blick auf den Platz zu werfen, auf dem er einst gesessen hatte, und stets reagierte er leicht überrascht, wenn er feststellen musste, dass er nicht dort saß.
Am 11. November dieses Jahres, zwei Monate nach Semesterbeginn, wurde der Waffenstillstand unterzeichnet. Die Nachricht verbreitete sich an einem Unterrichtstag, und sogleich lösten sich die Seminare auf; Studenten rannten ziellos über den Campus und begannen, kleine Paraden abzuhalten, strömten auseinander und versammelten sich erneut, marschierten durch Säle, Seminarräume und Büros. Halb gegen seinen Willen geriet Stoner in eine dieser Prozessionen, die durch Jesse Hall mäanderte, über Flure, Treppen hinauf und wieder über Flure. Mitgerissen von der kleinen Schar Studenten und Dozenten, kam er an der offenen Tür zu Archer Sloanes Büro vorbei und konnte einen flüchtigen Blick auf Sloane werfen, der auf seinem Schreibtischstuhl saß und – das Gesicht verzerrt und unbedeckt – so bitterlich weinte, dass die Tränen über die tiefen Hautfalten rannen.
Wie unter Schock ließ Stoner sich noch einen Moment lang von der Menge davontragen. Dann scherte er aus und ging in sein eigenes Büro. Dort saß er im Halbdunkel, hörte draußen die Freudenrufe, die Erleichterung, und dachte anArcher Sloane, der über eine Niederlage weinte, die nur er allein sah oder zu sehen meinte; und er wusste, Sloane war ein gebrochener Mann, der nie wieder so sein würde, wie er einmal gewesen war.
*
Ende November kamen viele Männer aus dem Krieg nach Columbia zurück, und überall auf dem Campus war das Olivgrün ihrer Uniformen zu sehen. Zu denen, die vorläufig nur auf verlängerten Urlaub heimkehrten, gehörte auch Gordon Finch. In den anderthalb Jahren seiner Abwesenheit von der Universität hatte er zugenommen, das breite, offene Gesicht, das früher so fügsam gewirkt hatte, war einer Miene leutseligen, doch gesetzten Ernstes gewichen; er trug die Abzeichen eines Captains und sprach oft mit väterlichem Wohlwollen von ›seinen Jungs‹. William Stoner gegenüber gab er sich verhalten freundlich, und er achtete darauf, den älteren Mitgliedern des Fachbereichs gebührenden Respekt zu erweisen. Das Herbstsemester war bereits zu weit fortgeschritten, als dass man ihn noch mit Lehraufgaben hätte betrauen können, weshalb ihm für den Rest des akademischen Jahres ein Posten als Verwaltungsassistent beim Dekan für Kunst und Wissenschaften zugewiesen wurde, wenn auch erklärtermaßen nur vorübergehend. Er besaß genügend Feingefühl, sich der Unbestimmtheit seiner neuen Stellung bewusst zu sein, und war klug genug, ihre Möglichkeiten zu erkennen; die Beziehungen zu seinen Kollegen hielt er auf so behutsame wie höfliche Weise unverbindlich.
Josiah Claremont, der Dekan für Kunst und Wissenschaften, war ein schmalbärtiger Mann fortgeschrittenen Alters,der den obligatorischen Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Amt bereits um mehrere Jahre versäumt hatte. Seit Anfang der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts aus dem einfachen College eine reguläre Universität geworden war, gehörte er dem Lehrkörper an, und sein Vater zählte zu ihren ersten Präsidenten. Claremont war so fest etabliert und derart Teil der Geschichte dieser Universität, dass trotz der zunehmenden Inkompetenz, mit der er sein Amt verwaltete, niemand den Mut besaß, auf sein Ausscheiden zu insistieren. Sein Erinnerungsvermögen ließ merklich nach, und manchmal verlief er sich sogar auf den Fluren von Jesse Hall, weshalb er dann wie ein Kind in sein Büro geführt werden musste.
In Universitätsangelegenheiten war er so unzuverlässig geworden, dass die Ankündigung seines Büros, bei ihm daheim werde ein Empfang zu Ehren der in die Fakultät und den Verwaltungsstab zurückgekehrten Veteranen stattfinden, ausnahmslos als raffinierter Scherz oder als ein Versehen aufgenommen wurde. Doch handelte es sich um keines von beiden. Gordon Finch bestätigte die Einladungen, und es wurde allgemein gemunkelt, dass er es auch gewesen war, der den Empfang angeregt und dieses Vorhaben durchgesetzt hatte.
Der seit langen Jahren verwitwete Josiah Claremont lebte
Weitere Kostenlose Bücher