Stoner: Roman (German Edition)
zu dem er schließlich gelangte, und lauschte dem Schweigen. Seine Füße waren taub vor Kälte, aber er rührte sich nicht. Aus einem verhängten Fenster fiel dämmriges Licht als gelber Fleck auf den blauweißen Schnee, und er meinte im Haus eine Bewegung wahrzunehmen, war sich aber nicht sicher. Dann, in voller Absicht und so, als verpflichte er sich zu etwas, trat er vor, folgte dem Weg zur Veranda und klopfte an die Tür.
Ediths Tante (sie hieß, wie Stoner zuvor erfahren hatte, Emma Darley und war seit einer Reihe von Jahren Witwe) öffnete ihm und bat ihn ins Haus. Sie war eine kleine, rundliche Frau mit feinem, weißem Haar, das ihr Gesicht umfloss; die dunklen Augen blinzelten feucht, und sie redete so leise und atemlos, als verriete sie Geheimnisse. Stoner folgte ihr in den Salon und setzte sich, ihr zugewandt, auf ein langes Walnussholzsofa, dessen Sitzfläche und Rückenlehne mit schwerem blauem Samt bespannt waren. Schnee haftete an seinen Schuhen, und Stoner sah zu, wie sich auf dem dicken, geblümten Teppich unter seinen Füßen feuchte Tauflecken bildeten.
»Edith hat mir erzählt, dass Sie an der Universität lehren, Mr Stoner«, sagte Mrs Darley.
»Ja, Ma’am«, erwiderte er und räusperte sich.
»Es ist wirklich nett , mal wieder mit einem jungen Professor plaudern zu können«, erklärte Mrs Darley freudestrahlend. »Mein verstorbener Gatte, Mr Darley, saß einige Jahre im Kuratorium der Universität – aber ich vermute, das wissen Sie längst.«
»Nein, Ma’am«, sagte Stoner.
»Oh«, sagte Mrs Darley. »Nun, früher kamen nachmittags oft junge Professoren zum Tee, aber das war vor dem Krieg und ist jetzt einige Jahre her. Waren Sie im Krieg, Professor Stoner?«
»Nein, Ma’am«, sagte er. »Ich war an der Universität.«
»Natürlich«, erwiderte Mrs Darley und nickte vergnügt. »Und Sie unterrichten …?«
»Englisch«, antwortete Stoner. »Allerdings bin ich kein Professor. Nur Dozent.« Er wusste, wie rau seine Stimme klang, konnte aber nichts dagegen tun. Er versuchte zu lächeln.
»Ach ja«, seufzte sie. »Shakespeare … Browning …«
Sie verstummten; Stoner wrang die Hände und blickte zu Boden.
»Ich werde mal nachsehen, wo Edith bleibt«, sagte Mrs Darley. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen …«
Stoner nickte und erhob sich, während sie hinausging. Aus dem Hinterzimmer hörte er heftiges Flüstern. Reglos verharrte er noch ein paar Minuten.
Plötzlich stand Edith im breiten Türrahmen, blass und ohne zu lächeln. Sie sahen sich an, als würden sie sich nicht wiedererkennen. Edith wich einen Schritt zurück, trat dann aber wieder vor, die Lippen schmal und angespannt. Ernst gaben sie einander die Hand und setzten sich aufs Sofa. Sie hatten noch kein Wort gesagt.
Edith war größer, als er sie in Erinnerung hatte, auch zarter, das Gesicht lang und schmal, und die Lippen hielt sie über eher kräftigen Zähnen geschlossen. Ihre Haut war von jener durchschimmernden Art, die schon beim leisesten Reiz einen Anflug von Farbe und Wärme zeigt, das Haar von einemhellen Rotbraun. Sie trug es in dicken, hochgesteckten Zöpfen, doch waren es ihre Augen, die ihn, wie schon am Tag zuvor, betörten und gefangennahmen. Sie waren groß und vom blassesten Blau, das er sich nur vorzustellen vermochte. Sah er sie an, schienen sie ihn aus sich heraus in ein Mysterium hineinzuziehen, das er nicht ganz verstand. Er hielt sie für die schönste Frau, die er je gesehen hatte, und spontan brach es aus ihm heraus: »Ich … ich möchte mehr über Sie wissen.« Sie wich ein wenig zurück. Hastig fügte er hinzu: »Ich meine – gestern, bei dem Empfang, da hatten wir eigentlich keine Gelegenheit, miteinander zu reden. Ich wollte ja, aber da waren so viele Leute. Manchmal können Leute hinderlich sein.«
»Es war ein sehr netter Empfang«, sagte Edith leise. »Ich fand, alle waren sehr nett.«
»O gewiss, natürlich«, sagte Stoner. »Ich meinte …« Er sprach nicht weiter. Edith blieb stumm.
Er sagte: »Ich habe gehört, dass Sie und Ihre Tante bald nach Europa fahren?«
»Ja«.
»Europa …« Er schüttelte den Kopf. »Sie müssen schrecklich aufgeregt sein.«
Sie nickte zögerlich.
»Wohin fahren Sie? Ich meine … in welche Länder?«
»England«, erwiderte sie. »Frankreich. Italien.«
»Und wann – im Frühling?«
»April.«
»Fünf Monate«, sagte er. »Das ist nicht mehr lang. Ich hoffe, bis dahin können wir …«
»Ich bin bloß noch drei Wochen hier«, warf
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