Stoner: Roman (German Edition)
ohne jedes Interesse, nickte zerstreut, drehte sich um und trat schweren Schrittes hinaus auf den nackten Betonboden des Flurs. Er fühlte sich ausgelaugt, müde und schrecklich alt.
X
UND ER HATTE IN DIESER SACHE tatsächlich noch nicht das letzte Wort gehört.
An dem Montag, der auf den letzten Freitag des Semesters folgte, reichte er die vergebenen Zensuren ein, denn da er am Dozentendasein nichts so sehr wie das Benoten verabscheute, erledigte er dies stets so rasch wie möglich. Er gab Walker ein Ungenügend, dachte nicht weiter daran und verbrachte einen Großteil der Woche zwischen den Semestern damit, die ersten Entwürfe zweier Dissertationen zu lesen, die im Frühjahr vorgelegt werden mussten. Sie waren umständlich formuliert und benötigten seine ganze Aufmerksamkeit. Der Walker-Vorfall wurde dadurch in den Hintergrund gedrängt.
Doch zwei Wochen nach Beginn des Semesters wurde er erneut daran erinnert. Eines Morgens fand er in seinem Brieffach eine Nachricht von Gordon Finch, der ihn bat, bei nächster Gelegenheit in seinem Büro vorbeizuschauen.
Die Freundschaft zwischen Gordon Finch und William Stoner hatte jenen Punkt erreicht, den alle derartigen Beziehungen irgendwann erreichen, wenn sie nur lange genug dauern: Sie war zwanglos, tief und bei aller Vertrautheit so zurückhaltend, dass sie beinahe unpersönlich wirkte. Auch wenn Caroline gelegentlich bei Edith zu Besuch weilte, trafensich Gordon Finch und William Stoner gesellschaftlich nur selten. Und wenn sie sich unterhielten, erinnerten sie sich an die Jahre ihrer Jugend, sodass jeder sein Gegenüber sah, wie es zu einer anderen Zeit gewesen war.
Mit beginnendem mittlerem Alter besaß Finch die aufrechte, geschmeidige Haltung eines Mannes, der energisch versucht, sein Gewicht unter Kontrolle zu halten; das Gesicht war füllig und noch ohne Falten, doch zeigten sich erste Andeutungen von Hängebacken, und am Hals rollte sich die Haut zusammen. Das Haar war schütter, und Finch hatte begonnen, es so zu kämmen, dass man die einsetzende Kahlköpfigkeit nicht gleich auf den ersten Blick sehen konnte.
An jenem Nachmittag, an dem Stoner bei ihm im Büro vorbeischaute, plauderten sie eine Weile unbefangen über ihre Familien; Finch hielt den leichten Ton, indem er vorgab, Stoner führe eine normale Ehe, und ganz wie es sich geziemte, bekannte Stoner, er könne kaum glauben, dass Gordon und Caroline schon Eltern zweier Kinder seien, von denen auch das jüngste bereits in den Kindergarten gehe.
Nachdem sie sich mit diesen automatisch vorgebrachten Äußerungen ihrer Vertrautheit versichert hatten, schaute Finch nachdenklich aus dem Fenster und sagte: »Worüber wollte ich noch mal mit dir reden? Ach ja, der Dekan des Graduiertenkollegs – er fand, weil wir befreundet sind, solle ich dir Bescheid sagen. Nichts, was wirklich wichtig wäre.« Er warf einen Blick auf seinen Notizblock. »Nur ein aufgebrachter Student, der glaubt, letztes Semester in einem deiner Seminare ungerecht behandelt worden zu sein.«
»Walker«, sagte Stoner. »Charles Walker.«
Finch nickte. »Genau der. Was ist mit ihm?«
Stoner zuckte mit den Achseln. »Meines Erachtens hater sich die Lektüreliste nicht einmal angesehen – es geht um mein Seminar über die lateinische Tradition. Und er hat versucht, sich durch den Seminarvortrag zu mogeln. Als ich ihm dann Gelegenheit gab, mir eine Kopie seiner Arbeit auszuhändigen oder sie neu anzufertigen, hat er sich geweigert, weshalb mir nichts anderes übrigblieb, als ihn durchfallen zu lassen.«
Finch nickte erneut. »Etwas Ähnliches habe ich mir gedacht. Weiß der Himmel, ich wünschte, man würde meine Zeit nicht mit diesem Kram vergeuden, aber ich muss der Sache nachgehen, allein schon zu deinem Schutz.«
»Gibt es da denn«, fragte Stoner, »irgendwelche besonderen Schwierigkeiten?«
»Nein, nein«, antwortete Finch. »Nur eine Beschwerde. Du weißt doch, wie das ist. Ehrlich gesagt, Walker hat auch den ersten Kurs seines Doktorandenstudiums mit Ausreichend nur knapp bestanden, weshalb wir ihn jetzt schon relegieren könnten, falls wir dies wollten, aber ich denke, wir lassen ihn nächsten Monat an der mündlichen Vorprüfung teilnehmen und sehen, wie die ausgeht. Tut mir leid, dass ich dich überhaupt damit behelligen muss.«
Sie redeten noch eine Weile über andere Dinge, aber als Stoner schließlich gehen wollte, hielt Finch ihn wie beiläufig zurück.
»Ach, da ist übrigens noch etwas, das ich dir sagen wollte.
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