Stoner: Roman (German Edition)
aufgehalten, die unbedingt mit ihm reden wollten, weshalb er sich erst nach eins freimachen konnte. Mit grimmiger Entschlossenheit strebte er schließlich der Bibliothek zu, um sich eine leere Lesekabine zu suchen und das Manuskript in der verbleibenden Stunde wenigstens kurz zu überfliegen, ehe er sich dann um drei Uhr mit Miss Driscoll traf.
Selbst in der dämmrigen, vertrauten Ruhe der Bibliothek jedoch, in der leeren Lesekabine, die er versteckt zwischen den hinteren Reihen der Regale gefunden hatte, fiel es ihm schwer, sich die Arbeit anzusehen. Er schlug andere Werke auf und las wahllos einige Abschnitte, saß still da und atmete den von alten Büchern aufsteigenden Modergeruch ein, um dann, als er es nicht länger aufschieben konnte, schließlich zu seufzen und einen flüchtigen Blick auf die ersten Seiten zu werfen.
Anfangs streifte er das, was er las, nur nervös mit dem äußeren Rand seines Verstandes, doch allmählich drängtensich ihm die Worte auf. Er runzelte die Stirn, begann, sorgsamer zu lesen, war gleich darauf gefangen, kehrte an den Anfang zurück und richtete nun seine ganze Aufmerksamkeit auf die Seiten. Ja, sagte er sich, natürlich. Vieles von dem, was in ihrer Seminararbeit erwähnt worden war, tauchte hier wieder auf, doch umgestellt, neu geordnet, weshalb es in Richtungen wies, die er selbst nur vage geahnt hatte. Mein Gott, sagte er sich staunend, und die Finger zitterten beim Umblättern vor lauter Aufregung.
Als er zur letzten Seite des Manuskripts kam, lehnte er sich in glückseliger Erschöpfung zurück und starrte vor sich hin auf die graue Betonmauer. Auch wenn ihm erst wenige Minuten verstrichen zu sein schienen, seit er zu lesen begonnen hatte, warf er einen Blick auf die Uhr. Es war fast halb fünf. Rasch sprang er auf, sammelte das Manuskript ein, eilte aus der Bibliothek, und obwohl er wusste, dass es keine Rolle mehr spielte, rannte er halb über den Campus zum Gebäude von Jesse Hall.
Als er auf dem Weg zu seinem Zimmer an der offenen Tür des Hauptbüros vorbeikam, hörte er, wie jemand seinen Namen rief. Er blieb stehen, steckte den Kopf durch die Tür, und die Sekretärin – eine junge Frau, die Lomax erst vor kurzem eingestellt hatte – sagte vorwurfsvoll, beinahe impertinent: »Miss Driscoll war um drei Uhr hier. Sie hat fast eine Stunde gewartet.«
Er nickte, dankte ihr, ging ein wenig langsamer zu seinem Büro weiter und sagte sich, dass es nun nicht mehr darauf ankäme, dass er ihr das Manuskript auch am Montag geben und sich bei ihr entschuldigen könne. Doch die Aufregung, die ihn nach der Lektüre des Manuskripts gepackt hatte, wollte sich nicht legen, sodass er im Büro ruhelos auf undab lief und nur gelegentlich stehen blieb, um mit dem Kopf zu nicken. Schließlich trat er ans Bücherregal, suchte einen Moment und zog dann einen schmalen Band mit verschmierten schwarzen Druckbuchstaben auf dem Umschlag hervor: Adressverzeichnis. Personal und Fakultätsmitglieder der Universität Missouri . Er fand Katherine Driscolls Namen; sie besaß kein Telefon. Er notierte sich ihre Adresse, nahm das Manuskript vom Tisch und verließ das Büro.
Richtung Stadt lag etwa drei Querstraßen vom Campus entfernt eine Ansammlung großer, alter Häuser, die vor wenigen Jahren in Wohnungen aufgeteilt worden waren, in denen Studenten älteren Semesters lebten, jüngere Fachbereichsmitglieder und Mitarbeiter der Universität, aber auch einige Stadtbewohner. Katherine Driscolls Haus stand irgendwo mittendrin, ein riesiges dreistöckiges Gebäude aus grauem Stein mit einer verblüffenden Vielzahl von Ein- und Ausgängen, Türmchen, Erkerfenstern und Balkonen auf allen Seiten. Stoner fand Katherine Driscolls Namen schließlich auf einem Briefkasten an jener Hausseite, vor der eine kurze Betontreppe zu einer Souterraintür hinabführte. Er zögerte einen Augenblick, dann klopfte er an.
Als ihm Katherine Driscoll aufmachte, hätte er sie fast nicht erkannt; sie hatte ihr Haar hochgesteckt und achtlos hinten im Nacken zusammengebunden, sodass ihre kleinen, rosigweißen Ohren hervorlugten; eine Brille mit dunklem Gestell ließ die dunklen Augen groß und verschreckt aussehen; und sie trug ein Männerhemd, am Hals offen, dazu eine dunkle Hose, die sie noch schlanker und anmutiger wirken ließ, als Stoner sie in Erinnerung hatte.
»Tut … tut mir leid, dass ich nicht zu unserer Verabredung gekommen bin«, stammelte Stoner verlegen. Dann hielt erihr die Mappe hin. »Ich dachte, Sie
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