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Stoner: Roman (German Edition)

Stoner: Roman (German Edition)

Titel: Stoner: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Williams
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geschneit; weiches Weiß deckte die Welt dort draußen zu. Das Büro war überheizt; er öffnete das Fenster, damit kühle Luft in den geschlossenenRaum dringen konnte. Tief atmete er ein und ließ den Blick über den weißen Campus schweifen, dann knipste er spontan die Schreibtischlampe aus und saß im warmen Dunkel seines Büros; kalte Luft füllte seine Lungen. Er beugte sich zum offenen Fenster vor, hörte die Stille der Winternacht, und ihm war, als könnte er irgendwie die Geräusche spüren, die von der zarten, komplexen Zellstruktur des Schnees aufgesogen wurden. Nichts regte sich auf dem Weiß; ihm bot sich der Anblick einer leblosen Szenerie, die an ihm zu zerren, an seinem Bewusstsein zu saugen schien, so wie sie die Geräusche aus der Luft sog und im kalten, weichen Weiß vergrub. Er fühlte sich nach draußen in dieses Weiß gezogen, das sich ausdehnte, soweit er sehen konnte, und das Teil der Dunkelheit war, aus der heraus es schimmerte, Teil eines klaren, wolkenlosen Himmels ohne Höhe oder Tiefe. Einen Moment lang spürte er, wie er den eigenen, reglos vor dem Fenster sitzenden Körper verließ; und als er sich davongleiten fühlte, kam ihm alles – das flache Weiß, die Bäume, die hohen Säulen, die Nacht, die fernen Sterne – unfassbar winzig vor und weit fort, so als schrumpften sie zu nichts zusammen. Dann schepperte hinter ihm ein Heizkörper. Stoner bewegte sich; die Welt fand wieder zu sich selbst. Mit seltsam widerstrebender Erleichterung knipste er die Schreibtischlampe erneut an, griff sich ein Buch und einige Papiere, verließ das Büro, ging über die dunklen Flure und verließ Jesse Hall durch die breite Doppeltür auf der Rückseite. Langsam machte er sich auf den Heimweg und spürte bei jedem Schritt, wie seine Füße mit gedämpftem Laut über trockenen Schnee knirschten.

XII
    VOR ALLEM WÄHREND DER WINTERMONATE überraschte er sich in jenem Jahr immer häufiger dabei, wie er in solch unwirkliche Zustände verfiel und dabei den eigenen Körper willentlich verlassen zu können schien. Er sah sich zu, als wäre er ein seltsam vertrauter Fremder, der jene eigenartig vertrauten Dinge tat, die er zu tun hatte. Eine solche Aufspaltung hatte er nie zuvor gespürt; und er wusste, er sollte sich Sorgen machen, doch war er wie betäubt und konnte sich nicht dazu durchringen, es bedeutsam zu finden. Er war zweiundvierzig Jahre alt; vor sich sah er nichts, auf das er sich zu freuen wünschte, und hinter sich nur wenig, woran er sich gern erinnerte.
    In seinem dreiundvierzigsten Lebensjahr war William Stoner so hager wie in seiner Jugend, als er zum ersten Mal wie geblendet vor Ehrfurcht über einen Campus gegangen war, der diese Wirkung auf ihn nie ganz verlieren sollte. Jahr um Jahr ging er stärker vornübergebeugt, und er hatte gelernt, sich so langsam zu bewegen, dass die bäuerliche Schwerfälligkeit von Hand und Fuß absichtsvoll und nicht wie angeborene Unbeholfenheit wirkte. Sein langes Gesicht war mit der Zeit sanfter geworden, und auch wenn die Haut noch wie gegerbtes Leder aussah, spannte sie sich doch nicht mehr straff über scharf vorspringende Wangenknochen, sondern wurdevon dünnen Falten um Augen und Mund aufgelockert. Die grauen Augen, klar und scharf wie eh und je, waren tiefer eingesunken, ihre misstrauische Wachsamkeit halb verborgen, und das Haar, einst hellbraun, war dunkler geworden, auch wenn sich an den Schläfen erste graue Spuren zeigten. Er dachte nicht oft über die Jahre nach, noch bedauerte er ihr Verstreichen, doch wenn er sein Gesicht in einem Spiegel sah oder sich seinem Abbild in einer der Glastüren näherte, die ins Gebäude von Jesse Hall führten, dann registrierte er mit gelindem Entsetzen, welche Veränderungen mit ihm vorgegangen waren.
    Zu Anfang des Frühlings saß er eines Nachmittags allein in seinem Büro, auf dem Tisch ein Stapel Erstsemesterarbeiten. Er hielt einen Aufsatz in der Hand, las aber nicht, sondern schaute, wie so oft in letzter Zeit, aus dem Fenster auf jenen Teil des Campus, den er von seinem Büro aus überblicken konnte. Es war ein strahlender Tag, und seit er hinaussah, war der vom Gebäude geworfene Schatten fast bis zum Fuße der fünf Säulen vorgerückt, die in machtvoller, einsamer Anmut mitten auf dem rechteckigen Platz standen. Was im Schatten lag, war von dunklem, bräunlichem Grau, der Winterrasen jenseits des Schattenrands dagegen hellbraun, überlagert von einem schimmernden Film blassestem Grün. Und weiß leuchtete

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