Stoner: Roman (German Edition)
früher zu ihnen gehabt hatte; er war nun jemand, mit dem man aus besonderem Grund gesehen oder auch nicht gesehen werden wollte.
Ihm wurde bewusst, dass seine Anwesenheit Freunde wie Feinde verlegen machte, weshalb er sich mehr und mehr zurückzog.
Lethargie begann ihn zu lähmen. Seine Seminare unterrichtete er so gut er konnte, doch ließ das stete Einerlei der vorgeschriebenen Erst- und Zweitsemesterkurse jede Begeisterung schwinden, sodass er sich am Ende des Tages ausgelaugt und wie betäubt fühlte. Wenn es möglich war, füllte er die Zeit zwischen den weit auseinanderliegenden Seminaren mit Sprechstunden, ging mit den Studenten sorgsam ihre Arbeiten durch und hielt sie so lange auf, bis sie ruhelos und ungeduldig wurden.
Langsam krochen die Tage dahin. Er versuchte, möglichst oft bei seiner Frau und seinem Kind zu sein, doch in Anbetracht seiner eigenwilligen Unterrichtszeiten konnte er nur zu ungewöhnlichen Stunden kommen, die meist nicht mit Ediths strikter Planung vereinbar waren; außerdem musste er feststellen (was ihn keineswegs überraschte), dass Edith seineregelmäßige Anwesenheit derart beunruhigend fand, dass sie nervös, stumm und gelegentlich sogar körperlich krank wurde. Darüber hinaus konnte er Grace in der Zeit, die er zu Hause verbrachte, nur selten sehen. Edith hatte den Tagesablauf ihrer Tochter genau eingeteilt; ›Freizeit‹ gab es höchstens am Abend, doch musste Stoner viermal in der Woche abends unterrichten. Wenn die Seminare vorbei waren, lag Grace meist schon im Bett.
Also sah er sie weiterhin nur kurz am Morgen zum Frühstück, und mit ihr allein war er bloß in jenen wenigen Minuten, die Edith brauchte, um das Geschirr abzuräumen und zum Einweichen ins Spülbecken zu stellen. Er sah, wie sie heranwuchs, wie ihre Glieder sich mit unbeholfener Anmut zu bewegen lernten und Vernunft sich in ihrem ruhigen Blick und aufmerksamen Gesicht zu zeigen begann. Manchmal spürte er auch, dass es zwischen ihnen noch eine Nähe gab, eine Nähe, die sie beide nicht zuzugeben wagten.
Schließlich verfiel er wieder seiner Gewohnheit, die meiste Zeit in seinem Büro in Jesse Hall zu verbringen. Er redete sich ein, er sollte dankbar für die Gelegenheit sein, endlich nach eigenem Gutdünken lesen zu können, frei von dem Druck, Seminare vorzubereiten, frei von allen Vorschriften, die seine Lektüre bestimmten. Er versuchte, ungezielt zu lesen, nach Lust und Laune, versuchte, sich in Bücher zu vertiefen, die er sich schon seit Jahren vornehmen wollte, doch ließ sich sein Verstand nicht dorthin lenken, wohin er ihn führen wollte. Die Gedanken schweiften von den Buchseiten ab, und immer häufiger ertappte er sich dabei, wie er dumpf vor sich hin ins Nichts stierte; es war, als würde sein Kopf nach und nach von allem Wissen geleert und sein Wille aller Kraft beraubt. Manchmal fürchtete er, nur noch vorsich hin zu vegetieren, und er sehnte sich nach etwas, das ihn durchbohrte, sei es auch Schmerz, damit er sich endlich wieder lebendig fühlte.
Er hatte jene Phase in seinem Leben erreicht, in der sich ihm mit wachsender Dringlichkeit eine Frage von solch überwältigender Einfachheit stellte, dass er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte. Er begann sich nämlich zu fragen, ob sein Leben lebenswert sei, ob es das je gewesen war. Alle Menschen, vermutete er, stellten sich zu dem ein oder anderen Zeitpunkt gewiss diese Frage, doch hätte er gern gewusst, ob sie sich ihnen mit solch unpersönlicher Wucht aufdrängte wie ihm. Die Frage ging mit einer Trauer einher, einer unbestimmten Trauer, die (so nahm er an) nur wenig mit ihm selbst oder seinem besonderen Los zu tun hatte; ja, er war sich nicht einmal sicher, ob sie sich ihm aus dem unmittelbar gegebenen, offensichtlichen Anlass stellte, also den kürzlichen Veränderungen in seinem eigenen Leben. Sie rührte, glaubte er, eher aus der Anhäufung seiner Jahre her, aus der Verdichtung von Zufall und Umstand sowie aus dem, was er darunter zu verstehen gelernt hatte. Er fand ein ebenso grimmiges wie ironisches Vergnügen an der Möglichkeit, ihn habe jenes bisschen Bildung, das er sich erworben haben mochte, zu folgender Einsicht geführt: Letzten Endes war alles, selbst das Studium, das ihm dieses Wissen ermöglichte, sinnlos und vergeblich und gerann zu einem unabänderlichen Nichts.
Einmal kehrte er nach einem seiner Abendseminare ins Büro zurück und setzte sich an den Tisch, um zu lesen. Es war Winter, und tagsüber hatte es
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