Stoner: Roman (German Edition)
führten, hatte sich keiner von ihnen ausgemalt. Sie steigerten sich von Leidenschaft zu Lust zu einer tiefen Sinnlichkeit, die sich von Augenblick zu Augenblick erneuerte.
»Lust und Lernen«, sagte Katherine einmal. »Mehr gibt es doch eigentlich nicht, oder?«
Und Stoner fand, sie habe absolut recht, gehörte dies doch zu dem, was er gelernt hatte.
Denn ihr gemeinsames Leben in jenem Sommer war nicht allein Liebesspiel und Gespräch. Sie lernten zudem, wortlos zusammen zu sein, und entwickelten Rituale der Ruhe; Stoner brachte Bücher mit in Katherines Wohnung und ließ sie dort, bis sie dafür schließlich ein weiteres Regal bauenmussten. Außerdem merkte er, dass er sich in den gemeinsam verbrachten Tagen wieder jenen Studien zuwandte, die er schon fast aufgegeben hatte, während Katherine fortfuhr, an ihrer Doktorarbeit zu schreiben. Oft saß sie stundenlang am winzigen Wandtisch, hochkonzentriert über Bücher und Papiere gebeugt, und ihr schlanker, heller Hals ragte aus dem dunkelblauen Morgenmantel, den sie gewöhnlich trug. Stoner rekelte sich unterdessen ähnlich konzentriert auf dem Sessel oder lag auf dem Bett.
Manchmal hoben sie den Blick aus ihren Büchern, lächelten einander an und wandten sich dann wieder ihrer Lektüre zu; manchmal sah Stoner auch von seinen Papieren auf und ließ den Blick auf Katherines wohlgeformtem Rücken ruhen oder über den schlanken Hals wandern, auf dem stets eine Haarsträhne lag. Langsam und leichthin überkam ihn dann ein Verlangen wie eine tiefe Ruhe, und er stand auf, stellte sich hinter sie und ließ die Arme leicht auf ihre Schultern sinken. Sie reckte sich, lehnte den Kopf an seine Brust, und seine Hände griffen in den lockeren Morgenmantel, um sanft ihre Brüste zu streicheln. Dann liebten sie sich, lagen eine Weile still und machten sich schließlich wieder an ihre Studien, als wären Liebe und Lernen ein und dasselbe.
Dies zählte zu den in jenem Sommer kennengelernten Eigentümlichkeiten dessen, was sie ›vorgefasste Meinung‹ nannten. Sie waren mit der ihnen auf die eine oder andere Weise beigebrachten Überzeugung aufgewachsen, dass die Welt des Geistes und der Sinnlichkeit voneinander getrennt, ja, dass sie gar feindselig zueinander standen, und ohne je recht darüber nachzudenken, hatten sie geglaubt, man könne sich für die eine nur auf Kosten der anderen entscheiden. Dabei war ihnen nie der Gedanke gekommen, dass die beidensich gegenseitig befruchten könnten; und weil in ihrem Fall die Erfahrung der Einsicht vorausging, glaubten sie, diese Entdeckung gehöre ihnen allein. Sie begannen, solche Eigentümlichkeiten der ›vorgefassten Meinungen‹ zu sammeln und wie Schätze zu bewahren, halfen sie ihnen doch nicht nur, sich von jener Welt zu isolieren, die ihnen diese vorgefassten Meinungen nahelegte, sondern auch, sich auf stille, doch tiefe Weise aneinander zu binden.
Es gab da noch eine weitere Eigentümlichkeit, der sich Stoner bewusst wurde, ohne jedoch mit Katherine darüber zu reden, denn das war eine, die mit der Beziehung zu seiner Frau und seiner Tochter zu tun hatte.
Den ›vorgefassten Meinungen‹ zufolge sollte diese Beziehung sich zunehmend verschlechtern, solange er hatte, was laut ›vorgefasster Meinung‹ wohl eine ›Affäre‹ war. Nur traf dies nicht zu. Im Gegenteil, sein Verhältnis zu Edith und Grace schien sich stetig zu verbessern. Die zunehmende Abwesenheit von dem, was er sich immer noch ›Daheim‹ zu nennen genötigt sah, brachte ihm Edith und Grace so nahe wie seit Jahren nicht mehr. Er begann, für Edith eigenartig freundschaftliche Gefühle zu hegen, die an Zuneigung grenzten, so dass sie sich manchmal nun sogar über Belangloses miteinander unterhielten. Im Laufe jenes Sommers würde Edith schließlich den Wintergarten reinigen, den Unwetterschaden reparieren lassen und ein Schlafsofa aufstellen, damit er nicht länger auf der Couch im Wohnzimmer übernachten musste.
Am Wochenende ging sie manchmal Nachbarn besuchen und ließ Grace dann allein bei ihrem Vater zurück. Hin und wieder blieb Edith sogar so lange fort, dass Stoner mit seiner Tochter weitläufige Spaziergänge machen konnte. AußerHaus ließ Grace ihre harte, misstrauische Zurückhaltung fallen und lächelte gelegentlich mit jenem stillen Charme, den Stoner schon fast vergessen hatte. Sie war sehr schlank und im letzten Jahr stark gewachsen.
Nur mit bewusster Willensanstrengung vermochte er sich in Erinnerung zu rufen, dass er Edith betrog. Die
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