Stoner: Roman (German Edition)
vielerlei Hinsicht bin ich ein ziemlich ignoranter Mensch, und eigentlich bin ich derjenige, der dumm ist, nicht Sie. Ich habe Sie nicht mehr besucht, weil ich dachte … ich hatte den Eindruck, ich würde Ihnen zur Last fallen. Was vielleicht falsch war.«
»Ja«, sagte sie, »das war es.«
Immer noch ohne sie anzuschauen, fuhr er fort: »Und ich wollte Ihnen nicht zumuten, mit … mit meinen Gefühlen für Sie umgehen zu müssen, die, wie ich sicher wusste, früher oder später nicht länger zu verbergen sein würden, falls ich Sie weiterhin besuchte.«
Sie regte sich nicht, nur zwei Tränen rannen über ihre Wimpern und ihre Wangen; sie wischte sie nicht ab.
»Vielleicht war das egoistisch. Ich dachte, es könne zu nichts führen, höchstens zu Peinlichkeiten für Sie und zu Unglück für mich. Sie kennen meine … Umstände. Es schien mir nicht möglich, dass Sie … dass Sie etwas anderes für mich empfinden könnten als …«
»Sei still«, sagte sie leise, nachdrücklich. »Ach, mein Lieber, sei still und komm her.«
Er spürte, wie er zitterte, als er verlegen wie ein Schuljunge um den Couchtisch ging und sich neben sie setzte. Zögerlich, tapsig suchten sich ihre Hände, dann umschlangen sie sich in einer linkischen, unbequemen Umarmung, um schließlich lange Zeit einfach nur dazusitzen, ohne sich zu regen, als könnte die kleinste Bewegung jenes seltsame, schreckliche Etwas entkommen lassen, das sie in einem einzigen Griff umfangen hielten.
*
Ihre Augen, die er für dunkelbraun oder schwarz gehalten hatte, waren von tiefem Blau. Manchmal fingen sie das schummrige Licht einer Zimmerlampe ein und schimmerten feucht; er konnte den Kopf in die eine oder andere Richtung drehen, und die Augen in seinem Blick änderten die Farbe mit der Bewegung, weshalb sie selbst dann, wenn sie bewegungslos blieben, aussahen, als stünden sie niemals still. Ihre von Weitem so kühl und blass wirkende Haut besaß einen rötlich warmen Unterton wie Licht, das unter milchiger Transparenz dahinströmt. Und wie die transparente Haut verbargen Ruhe, Besonnenheit und Zurückhaltung, die er für ihre eigentlichen Charakterzüge gehalten hatte, eine Wärme, Verspieltheit und einen Humor, deren Intensität erst durch den Anschein möglich wurde, der sie verbarg.
In seinem dreiundvierzigsten Jahr erfuhr William Stoner, was andere, oft weit jüngere Menschen vor ihm erfahren hatten: dass nämlich jene Person, die man zu Beginn liebt, nicht jene Person ist, die man am Ende liebt, und dass Liebe kein Ziel, sondern der Beginn eines Prozesses ist, durch den ein Mensch versucht, einen anderen kennenzulernen.
Sie waren beide sehr scheu und lernten einander nur langsam kennen, behutsam; sie kamen sich nah und trennten sich, berührten sich und wichen zurück, wollten beide dem anderen nicht mehr zumuten, als er verkraften konnte. Tag für Tag fielen Schutzhüllen, bis sie schließlich wie so viele, die außergewöhnlich schüchtern sind, füreinander offen waren, ungeschützt, vollkommen und gänzlich unbefangen sie selbst.
Fast jeden Nachmittag kam er nach dem Unterricht zu ihr. Sie liebten sich und redeten und liebten sich erneut wie Kinder, die in ihrem Spiel nicht müde wurden. Die Tage wurden länger, und sie freuten sich auf den Sommer.
XIII
ALS WILLIAM STONER SEHR JUNG WAR , hatte er die Liebe für einen vollkommenen Seinszustand gehalten, zu dem Zugang fand, wer Glück hatte. Als er erwachsen wurde, sagte er sich, die Liebe sei der Himmel einer falschen Religion, dem man mit belustigter Ungläubigkeit, vage vertrauter Verachtung und verlegener Sehnsucht entgegensehen sollte. Nun begann er zu begreifen, dass die Liebe weder Gnade noch Illusion war; vielmehr hielt er sie für einen Akt der Menschwerdung, einen Zustand, den wir erschaffen und dem wir uns anpassen von Tag zu Tag, von Augenblick zu Augenblick durch Willenskraft, Klugheit und Herzensgüte.
Die Stunden, die er früher damit verbracht hatte, mit leerem Blick aus dem Bürofenster auf eine flirrende, sich in nichts auflösende Landschaft zu starren, verbrachte er nun mit Katherine. Jeden Morgen ging er früh ins Büro, blieb rastlose zehn, fünfzehn Minuten, um dann, da er keine Ruhe fand, Jesse Hall den Rücken zu kehren und über den Campus zur Bibliothek zu gehen, wo er weitere zehn, fünfzehn Minuten in Büchern blätterte, ehe er, von der selbst auferlegten Anspannung erlöst und als wäre es ein Spiel, das er mit sich spielte, die Bibliothek durch den
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