Stoner: Roman (German Edition)
Seitenausgang verließ und den Weg zu dem Haus einschlug, in dem Katherine wohnte.
Sie arbeitete oft bis spät in der Nacht, und wenn er zu ihr in die Wohnung kam, war sie an so manchem Vormittag gerade erst aufgewacht, noch warm und sinnlich vom Schlaf, nackt unterm dunkelblauen Morgenmantel, den sie sich übergeworfen hatte, um die Tür zu öffnen. An solchen Vormittagen liebten sie sich meist, ehe sie miteinander redeten, und legten sich ins schmale Bett, das noch warm und zerwühlt war von Katherines Nacht.
Sie hatte einen schlanken, zarten und auf sanfte Weise leidenschaftlichen Körper; und wenn er ihn berührte, schien seine unbeholfene Hand durch ihr Fleisch lebendig zu werden. Manchmal bestaunte er ihren Körper, als wäre er ein ihm zur Aufbewahrung anvertrauter unverwüstlicher Schatz; er ließ seine rauen Finger über die feuchte, blassrosafarbene Haut von Schenkel und Bauch spielen und bewunderte die ihm fremde, schlichte Zartheit ihrer kleinen, festen Brüste. Er begriff, dass er nie zuvor den Körper eines anderen Menschen kennengelernt hatte, und er begriff gleichfalls, dass dies der Grund war, warum er den Charakter seines Gegenübers stets irgendwie von dem Körper getrennt hatte, der diesen Charakter beherbergte. Und endlich begriff er auch mit unumstößlicher Gewissheit, dass er nie zuvor mit einem anderen Menschen wirklich intim, ohne Scheu und voller Hingabe vertraut gewesen war.
Wie alle Liebespaare redeten sie viel über sich selbst, als könnten sie so die Welt besser verstehen, die sie möglich gemacht hatte.
»Mein Gott, was habe ich dich begehrt«, sagte Katherine einmal. »Wie oft habe ich dich vor dem Seminar stehen sehen, so groß, liebenswert und linkisch, und was habe ich mich nach dir verzehrt. Das hast du nicht gewusst, stimmt’s?«
»Nein«, sagte William. »Ich habe dich für eine sehr anständige junge Dame gehalten.«
Sie lachte entzückt. »Anständig?« Ein wenig nüchterner begann sie, gedankenverloren zu lächeln. »Ich schätze, dafür habe ich mich auch gehalten. Ach, wie anständig finden wir uns doch, wenn wir keinen Anlass haben, unanständig zu sein! Man muss schon verliebt sein, wenn man sich selbst kennenlernen will. Mit dir fühle ich mich manchmal wie eine liederliche Schlampe, wie eine unersättliche, treue Schlampe. Findest du das anständig?«
»Nein«, sagte William, lächelte und streckte die Hand nach ihr aus. »Komm her.«
Wie William erfuhr, hatte sie früher bereits einmal einen Liebhaber gehabt. Das war während ihres letzten Semesters auf dem College gewesen, und es hatte mit Tränen, Vorwürfen und Enttäuschungen geendet.
»Die meisten Affären enden nicht gut«, sagte sie, und einen Moment lang waren sie beide ernst.
Entsetzt merkte William, wie sehr es ihn schockierte, dass sie vor ihm schon einen Liebhaber gehabt hatte; und ihm ging auf, dass er überzeugt gewesen war, sie hätten beide eigentlich gar nicht existiert, ehe sie zusammenkamen.
»Er war ein schüchterner Junge«, sagte sie. »Dir in mancher Hinsicht ähnlich, denke ich, nur war er verbittert und verängstigt. Gewöhnlich wartete er am Ende des Gangs zum Wohnheim auf mich, unter einem großen Baum, da er zu schüchtern war, näher dorthin zu gehen, wo sich so viele Menschen aufhielten. Oft sind wir dann kilometerweit gewandert, über Land, wo kaum Gefahr bestand, dass man uns sah. Dabei waren wir nie richtig … zusammen. Auch nicht, wenn wir miteinander geschlafen haben.«
Stoner meinte diese schemenhafte Gestalt beinahe sehen zu können, die kein Gesicht und keinen Namen hatte; der Schock wurde zu Kummer, und er empfand großherziges Mitleid für jenen unbekannten Jungen, der aus obskurer Verbitterung von sich gestoßen hatte, was Stoner nun besaß.
Im schläfrigen Dämmer, der auf ihr Liebesspiel folgte, wähnte er sich manchmal in einem lauen, sanften Wechselbad von Gefühl und trägem Denken zu liegen, worin er kaum wusste, ob er laut sprach oder nur die Worte erkannte, zu denen sich Gefühl und Gedanke langsam formten.
Er träumte von Vollkommenem, von Welten, in denen sie immer zusammenbleiben konnten, und halb glaubte er an die Möglichkeit des Geträumten. »Wie«, sagte er, »wäre es, wenn«, um dann eine Phantasiewelt zu schaffen, die kaum schöner als jene war, in der sie lebten. Unausgesprochen galt für sie beide, dass die möglichen Welten, die sie sich ausmalten, Liebesbeweise und eine Feier ihres jetzigen Daseins waren.
Das Leben, das sie zusammen
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