STOP! (German Edition)
Moment ist mir Jan so nah, wie es noch nie jemand anders war. Sein Mund öffnet sich: „Heirate mich und wir werden zusammen mit dem Kind eine richtige Familie.“
Genau seit 239 Tagen sind Jan und ich verheiratet und wohnen nun in unserem eigenen Reihenhaus. Jan und ich stehen morgens gemeinsam auf, trinken Kaffee, geben uns ein Abschiedsküsschen, machen uns auf den Weg zur Arbeit, tel e fonieren in den freien Pausen miteinander, kommen abends heim, kochen und verbringen den Abend zusammen. Ich komme mir wie das jüngere Abbild meiner Eltern vor. Früher hab ich immer den Kopf geschüttelt, als meine Mutter mir ihr Leben für später schmackhaft machen wollte. Ich fand und finde es heute immer noch genauso spießig wie früher. Und heute lebe ich es. Nicht dass ich es komplett verabscheuen würde. Ich liebe es, wenn Jan mir manchmal meinen Kaffee mit ganz viel Milch ans Bett bringt, wenn ich mal wieder nicht aufstehen will. Ich mag dieses Leben eigentlich. Oft war ich froh, wenn ich von meiner Redaktion heimkam und ich Jan zu Hause traf, bei dem ich mich über Frau Rüdiger beschweren konnte, meiner unausstehlichen Chefin. Er hört mir auch dann noch zu, wenn ich mich über die beschissene Situation bereits zum zehnten Mal beschwerte. Es sind die kleinen Dinge bei Jan, die ich wirklich an ihm liebe. Jan war auf den ersten Blick nicht meine große Liebe, doch seit ich ihn geheiratet habe und wir mehr Zeit miteinander verbrachten, lernte ich immer mehr Dinge an ihm zu schätzen. Doch das Beste an ihm ist, dass er weiß, wann er mich in Ruhe lassen soll. Jan spürt, wenn ich seine Nähe oder sein Fernbleiben brauche. Seine wunde r schönen grünen Augen zeigen für mich immer Verständnis. Er lässt mir meine Freiheiten. Das war der Grund, weshalb ich mich auch auf dieses Leben einließ. Es ist für mich eine gute Option, eine Zeit lang so zu leben, wenn ich die 08/15-Bedingungen, die dadurch entstehen, auslasse.
Heute sitze ich zu Hause am Schreibtisch und versuche mich auf meinen Artikel zu konzentrieren. Eben habe ich noch mit Jan telefoniert. Das Telefon habe ich mir schon neben meinen Laptop gelegt. Es ist Tradition, dass er mich immer um elf Uhr morgens anruft und sich erkundigt, wie es mir geht und ihr. Ihr, das Wesen in mir, meine ... Tochter, welche mir gerade einen Tritt versetzt. Sie scheint wohl genauso wild zu sein wie ich früher, nach Mutters Erzählungen. Sie ist der Grund, weshalb ich dieses Leben überhaupt führe, ein Leben, das ich noch nie wollte. Festgefahren. Sie, der Grund für die Hochzeit, diese Wohnung, der Grund, weshalb ich beruflich zurückgetreten bin. Seit zwei Monaten bin ich in Mutte r schutz. Mutterschutz! Ein falsches Wort, zumindest in meinem Fall. Bei mir müsste es eher Kinderschutz heißen, mein Kind wird geschützt, ich eher nicht. Meine Arbeit in der Redaktion, die mich vor ihr und dem Leben nach der Geburt ablenkte, war nicht mehr da. Die Leute aus der Redaktion schicken mir nun die Aufträge nach Hause mit dem Glauben, etwas Gutes für mich und das Kind getan zu haben, indem ich mich dem Stress und dem Abenteuer nicht mehr aussetzen musste. Ich beginne wie verrückt zu stricken, ich muss mich irgendwie ablenken. Selbst Jan, bis jetzt mein Felsen in der stürmischen See, traue ich nicht meine Gefühle anzuvertrauen. Denn auch er wäre wohl entsetzt und ich will nicht, dass seine lieben Augen mich abwertend anblicken. Denn das, würde mir wohl den Rest geben.
Meine Freundinnen treffe ich die letzte Zeit gar nicht mehr. Unsere WG ist aufgelöst worden. Kathrin und Julia sind inzwischen glücklich verheiratet. Julia hat bereits ein Kind und Kathrin wünscht sich so sehr eins. Mit den Zweien kann ich also nicht mehr sprechen. Eva ist verschwunden. Sie hat uns alle nur eine kurze Nachricht hinterlassen: „Neue Abenteuer lassen warten. Ab in die Fluten. Ich lass von mir hören. Küsschen, Eva.“ Die Letzte, die mich vielleicht noch verstanden hätte, ist nun abgetaucht und somit habe ich nun niemanden mehr, mit dem ich reden kann. Sie tritt mich wieder und ich lege unbewusst meine Hand auf den Bauch. Ich spüre wieder eine Bewegung. So, als wolle sie mir sagen, dass ich ja nicht alleine bin. Ich sehe aus dem Fenster und komme ins Grübeln. Was hat sie nur mit mir gemacht? Ich bin völlig durcheinander. Auf der einen Seite wäre ich froh, wenn sie nicht da wäre, und ich somit auch nicht dieses Leben führen müsste. Sie ist ja der Auslöser, wegen allem. Auf der anderen
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