Storm - Aus dem Leben eines Auftragskillers (German Edition)
Sie sehen so aus, wie ich mich fühle: Müde. Unsagbar müde. Jede jugendliche Unbekümmertheit ist aus ihren hübschen Gesichtern gewichen. Selbst unter Julies Augen haben sich dunkle Augenringe gebildet. Kein Wunder, reisten sie in den letzten Tagen doch von einem Unglück zum nächsten.
Dann geschieht etwas Ungewöhnliches. Ein zweites Auto nähert sich dem Schauplatz und parkt direkt hinter den Crammes. Es handelt sich um einen neumodischen, schwarzen 5er BMW, der mich schmerzlich an den verschollenen Mobby erinnert.
Hanna und Julie wenden sich dem Auto zu. Sie haben den Neuankömmling erwartet und wirken keinesfalls überrascht.
Ein hagerer, kleiner Kerl steigt aus dem Wagen. Ich kann ihn nicht identifizieren, da er eine Art Anglermütze trägt, die er sich zum Schutz vor dem Regen tief ins Gesicht gezogen hat. Aber der Mann ist alt, das sehe ich an seiner faltigen Haut. Er trägt unauffällige Kleidung im typischen Rentner-Beige und würde problemlos in jeder Menschenmenge untergehen. Ich frage mich kurz, ob das vielleicht seine Absicht ist, verfolge den Gedanken aber nicht weiter. Bestimmt ist er nur ein netter Opa, der eine großzügige Rente genießt. Irgendein Verwandter ist er garantiert. Jedenfalls scheint er Hanna und Julie nahe zu stehen, da er sich sofort zu ihnen begibt und sie herzlich umarmt. Leider wendet er dabei sein Gesicht so ungünstig zur Seite, dass sein Konterfei für mich weiterhin im Verborgenen bleibt.
Ich beobachte das Geschehen durch ein Fernglas aus über hundertfünfzig Metern Entfernung. Ich sehe gut, aber eben nicht perfekt. Wenigstens bin ich in meinem Auto vor ihren Blicken geschützt. Ich ducke mich dennoch leicht ab, als Hanna die Umarmung mit ihrem vermeintlichen Großvater löst und prüfend in meine Richtung schaut.
Sie checkt die Umgebung ab, hat mich aber nicht erkannt.
Das graue Wetter ist mein trister Schutzschild.
Julie hat sich neben Hanna gestellt und etwas zu ihr gesprochen.
Hanna antwortet ihr zögerlich. Ich verstehe die Worte nicht und bin auch nicht sonderlich gut im Lippenlesen. Das Wort ‚Mama‘ dürfte aber gefallen sein.
Der Opa dreht mir den Rücken zu.
Ich werfe die Stirn in Falten, weil ich mich langsam wundere, wo Peter Cramme abgeblieben ist. Habe ich ihn so schwer verletzt, dass er sich noch im Krankenhaus befindet? Unmöglich. Ich habe ihm hart zugesetzt, aber keine lebenswichtigen Organe verletzt. Wenn jemand im Krankenhaus liegen müsste, dann bin ich das. Ich bräuchte eigentlich noch Bettruhe und bin trotzdem auf den Beinen, weil es sein muss. Mein Körper wird mir irgendwann die Rechnung für meinen Übereifer ausstellen. Ich hoffe nur, dass er sich damit noch ein paar Jahre Zeit lässt.
Nachdem Julie wieder etwas zu ihrer Schwester gesagt hat, nickt Hanna eifrig. Sie geht zwei Schritte voraus und gibt Julie mit einer Armbewegung zu verstehen, ihr zu folgen. Der alte Mann bleibt unbeeindruckt stehen. Sie umrunden das Auto und bleiben an der Beifahrerseite stehen. Hanna öffnet die Autotür und beugt sich in den Pkw hinein.
Hinter dem spiegelnden Glas der Seitenscheiben erkenne ich einen dunklen Schatten. Wusste ich es doch. Das Familienoberhaupt ist bei ihnen. Vielleicht kann er wegen seine r Verletzungen nur nicht alleine aussteigen.
Einige Sekunden vergehen, dann recken sich zwei Köpfe aus dem Wageninneren hervor. Einer davon ist kahl und gehört zu Peter Cramme. Sein Gesicht ist verbeult und gezeichnet von unserem Zusammentreffen. Ein großer Bluterguss verunziert seine linke Gesichtshälfte. Er sieht so aus, als hätte er eine Kneipenschlägerei verloren, aber sonst hat er keinen bleibenden Schaden davongetragen. Gestützt von Hanna, humpelt er zu dem alten Mann herüber, dem er wie einem alten Saufkumpan kurz auf den Rücken klopft. Anschließend spazieren alle gen Friedhofstor.
Peters linke Hand wurde fachmännisch bandagiert. Die gebrochenen Finger werden schnell wieder zusammenwachsen und bald belastbar sein. Insgesamt macht er auf mich den Eindruck einer kleinen Mimose. Ich habe ihm nicht das Bein gebrochen, habe ihm keine Niere entfernt. Wieso lässt er sich dann von seiner Tochter stützen? Der Kerl macht aus einer Mücke gleich einen Elefanten. Während ich gedanklich über Peter Cramme herziehe, verschwindet die Familie hinter den roten Mauern des Gottesackers.
Anspannung fährt in meine Glieder. Was wird als Nächstes passieren? Wo ist die Familie untergetaucht? Kann ich ihnen wie geplant auf ihrem Rückweg folgen?
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