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Stout, Maria

Stout, Maria

Titel: Stout, Maria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Soziopath von nebenan
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zu
bewaffnen. Hannah war sein einziges Kind, und so lange sie zurückdenken konnte,
hatte er ihr immer vermittelt, dass sie alles erreichen könne, obwohl sie kein
Junge sei. Ein Mädchen könne werden, was immer es wolle. Ein Mädchen könne Arzt
werden. Hannah konnte Arzt werden.
    Hannah
liebte ihren Vater sehr. "Er ist der netteste, moralischste Mann der
Welt. Ja, das ist er wirklich", erzählte
sie mir. "Sie hätten alle die Menschen sehen sollen, die zu seinem Prozess
gekommen sind. Sie haben einfach dagesessen und geweint um ihn, geweint und
geweint. Er hat ihnen so Leid getan, aber sie konnten nichts für ihn tun,
verstehen Sie? Sie konnten nichts tun."
    Die Tat
war eines Nachts im März geschehen, als Hannah, damals im fünften Semester,
ihre Semesterferien zu Hause verbrachte. In den frühen Morgenstunden erwachte
sie durch ein lautes Geräusch vor ihrem Elternhaus.
    "Ich
habe erst später erfahren, dass es ein Schuss war", erzählte sie mir.
    Schlaftrunken
stand sie auf, um nachzusehen, was passiert war, und begegnete ihrer Mutter,
die an der offenen Haustür stand, weinte und sich die Haare raufte. Die kühle
Märzluft strömte herein.
    "Wissen
Sie, es ist seltsam. Ich kann immer noch die Augen schließen und sie da so
stehen sehen - der Wind blähte ihren Bademantel - und es war, als wüsste ich
schon alles, alles, was passiert war, schon in dem Moment, bevor ich überhaupt
irgendetwas wusste. Ich wusste, was passiert war. Ich wusste, dass mein Vater
verhaftet werden würde. Ich habe es alles gesehen. Also, das ist wie ein Bild
aus einem Albtraum, verstehen Sie? Die ganze Geschichte war wie ein Albtraum.
Man kann nicht glauben, dass es tatsächlich geschieht, und man denkt die ganze
Zeit, man würde aufwachen. Manchmal denke ich immer noch, dass ich aufwachen
werde und alles nur ein fürchterlicher Traum war. Aber woher wusste ich alles,
bevor ich überhaupt irgendetwas wusste? Ich sah meine Mutter dort stehen wie
... als ob es in der Vergangenheit passieren würde, wie ein de-já vu oder so.
Es war merkwürdig. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht scheint es heute nur
so, wenn ich daran zurückdenke; ich weiß es nicht."
    Sobald
ihre Mutter sie sah, packte sie Hannah, als ob sie ihre Tochter aus dem Weg
eines herannahenden Zuges ziehen müsste, und schrie: "Geh nicht hinaus!
Geh nicht hinaus!" Weder machte Hannah Anstalten hinauszugehen, noch
forderte sie von ihrer Mutter eine Erklärung. Sie stand einfach da, und ihre
entsetzte Mutter umarmte sie.
    "So
hatte ich sie vorher noch nie erlebt", sagte Hannah. "Und immer noch,
ich muss das immer wieder sagen, war es fast so, als ob ich das alles schon
erlebt hätte. Ich wusste, dass es besser war, im Haus zu bleiben."
    Nach einer
Weile - Hannah ist nicht sicher, wie lange es dauerte - kam ihr Vater durch
die weit offen stehende Haustür herein, zu Hannah und ihrer Mutter, wo sie
aneinander geklammert standen.
    "Er
hatte die Pistole nicht in der Hand. Er hatte sie irgendwo draußen fallen
lassen."
    Nur mit
einer Schlafanzughose bekleidet stand er vor seiner kleinen Familie.
    "Er
sah ganz normal aus. Er war ein bisschen außer Atem, aber er sah nicht
ängstlich aus oder so, und für einen kleinen Moment, vielleicht eine halbe
Sekunde, dachte ich, dass alles in Ordnung sei."
    Als Hannah
mir das erzählte, kamen ihr wieder die Tränen.
    "Aber
ich hatte zu viel Angst, um ihn zu fragen, was passiert war. Nach einer Weile
ließ Mama mich los. Sie ging, um die Polizei zu rufen. Ich entsinne mich, dass
sie ihn fragte: 'Ist er verletzt?' Und er sagte: 'Ich glaube schon. Ich glaube,
ich habe ihn schwer verletzt.' Und dann ging sie in die Küche und rief die Polizei
an. Das soll man doch tun, oder?"
    "Ja",
sagte ich. Es war keine rhetorische Frage gewesen.
    Nach und
nach erfuhr Hannah, was passiert war. Früher an jenem furchtbaren Abend hatte
Hannahs Mutter, die schon immer einen leichten Schlaf hatte, Geräusche aus dem
Wohnzimmer gehört, als ob Glas zerbrechen würde, und hatte ihren schlafenden
Mann geweckt. Die Geräusche hielten an. Der Herr des Hauses gewann den
Eindruck, dass ein Einbrecher im Haus sei, mit dem er fertig werden müsse und
stand auf, um sich vorzubereiten. Vorsichtig (nach der späteren Aussage seiner
Frau) nahm er - nur im spärlichen Licht einer winzigen Leselampe - die Pistole
aus ihrer Schatulle, die er im Schlafzimmerschrank aufbewahrte, entsicherte
und lud sie. Seine Frau beschwor ihn, doch einfach die Polizei anzurufen, doch
er

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