Stout, Maria
insbesondere in Japan und China. Im
Rahmen von Studien, die sowohl in ländlichen Regionen als auch in den Städten
Taiwans durchgeführt worden sind, wurde eine bemerkenswert niedrige
Verbreitung der antisozialen Persönlichkeitsstörung festgestellt, die im
Bereich von 0,03 bis 0,14 Prozent lag - zwar nicht Null, aber doch deutlich
geringer als der ungefähre Durchschnitt von 4 Prozent in der westlichen Welt,
also einer von fünfundzwanzig. Und irritierenderweise scheint die Verbreitung
der Soziopathie in den USA zuzunehmen. Die vom "National Institute of
Mental Health" (Staatliches Institut für geistige Gesundheit) 1991
durchgeführte "Epidemiologie Catchment Area Study" 49 (Studie zur Ermittlung von Inzidenz- und Prävalenzraten wichtiger
psychischer Störungen) berichtet, dass sich die Verbreitung der antisozialen
Persönlichkeitsstörung unter jungen US-Bürgern in den fünfzehn Jahren vor der
Studie fast verdoppelt habe. Es wäre schwierig, wenn nicht gar unmöglich, einen
so dramatischen Anstieg genetisch oder neurobiologisch zu erklären. Offenkundig
spielen kulturelle Einflüsse eine wichtige Rolle bei der Entstehung (oder dem
Ausbleiben) von Soziopathie in einer gegebenen Bevölkerung.
Kaum
jemand würde bestreiten wollen, dass die amerikanische Gesellschaft - vom
Wilden Westen bis hin zur heutigen Wirtschaftskriminalität - ein egoistisch
geprägtes Dominanzstreben erlaubt oder gar begünstigt. Robert Hare schreibt, 50 dass "unsere Gesellschaft sich dahingehend entwickelt, dass manche der in
der Psychopathie-Checkliste aufgeführten
Eigenschaften - wie zum Beispiel mangelnde Selbstbeherrschung,
Verantwortungslosigkeit, mangelnde Reue, etc. - zunehmend toleriert, begünstigt
und in einigen Fällen sogar belohnt werden". In dieser Meinung wird er von
Theoretikern bestärkt, die die Auffassung vertreten, dass die nordamerikanische
Kultur, für die Individualismus ein zentraler Wert ist, tendenziell die
Entstehung antisozialen Verhaltens fördert und auch tarnt. Anders ausgedrückt:
In Amerika "verschmilzt" die skrupellose Manipulation anderer
Menschen in viel höherem Maße mit den gesellschaftlichen Erwartungen, als das
in China oder anderen, eher gruppenorientierten Gesellschaften der Fall wäre.
Ich
glaube, dass es auch eine andere, glänzendere Seite dieser Medaille gibt, die
die Frage aufwirft, warum einige Kulturen sozialverträgliches Verhalten
fördern. Wie kommt es, dass - entgegen aller Wahrscheinlichkeit - manche
Gesellschaften einen positiven Einfluss auf heranwachsende Soziopathen haben,
mit ihrer angeborenen Unfähigkeit, zwischenmenschliche Gefühle normal zu
verarbeiten? Ich möchte zur Diskussion stellen, dass die primären Wertesysteme
mancher Kulturen geborene Soziopathen dazu bewegen könnten, kognitiv zu
kompensieren, was ihnen emotional entgeht. Im Gegensatz zu dem extremen
Stellenwert, den wir Individualismus und Selbstbestimmtheit einräumen, ist die
theologische Basis bestimmter Kulturen, darunter viele in Ostasien, die
gegenseitige Verbundenheit aller Lebewesen. Interessanterweise ist diese Maxime
auch die Basis des Gewissens, einem in emotionaler Verbundenheit zu anderen
verwurzeltes, intervenierendes Gefühl der Verpflichtung. Wenn ein Mensch seine
Bindung zu anderen nicht emotional erlebt oder neurologisch bedingt nicht
erleben kann, so vermag vielleicht eine Kultur, für die Verbundenheit ein
zentraler Wert ist, ihm ein rein kognitives Verständnis zwischenmenschlicher
Verpflichtung zu vermitteln.
Ein
intellektuelles Verständnis seiner Verpflichtungen anderen gegenüber ist nicht
dasselbe wie das mächtige, lenkende Gefühl, das wir Gewissen nennen; aber
vielleicht reicht es aus, um sozialverträgliches Verhalten zumindest
bei einigen Individuen hervorzubringen, die sich völlig antisozial verhalten
würden, wenn sie in einer Gesellschaft lebten, für die Individualismus
wichtiger ist als gegenseitige Verbundenheit. Wenn ihnen auch der innere Mechanismus
fehlt, der ihnen ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen vermittelt, so zwingt
sie doch die Gesellschaft in eine solche Verbundenheit - im Gegensatz zu
unserer Kultur, die ihnen nachdrücklich beibringt, dass skrupelloses Verhalten
zum eigenen Vorteil ihnen den größten Nutzen bringt. Das würde erklären, warum
eine westliche Familie einen geborenen Soziopathen nicht aus eigener Kraft
erretten kann. Zu viele andere Stimmen in der Gesellschaft vermitteln ihm, dass
seine Einstellung zum Leben die richtige
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