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Stout, Maria

Stout, Maria

Titel: Stout, Maria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Soziopath von nebenan
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halten würde, wie wir im nächsten Kapitel sehen
werden.
     
    A C H T
     
    der
soziopath von nebenan
     
    Es mag
sein, dass wir Marionetten sind - Marionetten an den Fäden der Gesellschaft.
Aber zumindest sind wir Marionetten mit Wahrnehmung und Bewusstsein. Und
vielleicht ist unser Bewusstsein der erste Schritt zu unserer Befreiung.
    — Stanley
Milgram
     
    "Ich
muss mit jemandem reden - ich glaube, ich muss mit jemandem reden, weil mein
Vater im Gefängnis ist." Hannah, meine hübsche, schmallippige, 22 Jahre
alte neue Patientin, machte diese kaum hörbare Äußerung in Richtung des
Bücherregals zu ihrer Rechten. Nach einem Moment sah sie mich direkt an,
schüchtern, und wiederholte sich: "Ich brauche jemanden, mit dem ich reden
kann. Mein Vater ist im Gefängnis."
    Sie
seufzte leise, als ob die Anstrengung so vieler Worte sie erschöpft habe, und
dann war sie still.
    Gerade,
wenn Menschen sehr verängstigt sind, besteht ein gewisser Teil des
therapeutischen Prozesses darin zu wissen, wie man die Äußerungen eines
Patienten interpretieren kann, ohne wertend oder herablassend zu klingen. Ich
beugte mich ein wenig vor, meine Hände über dem Knie verschränkt, und
versuchte, Hannahs Blick wieder einzufangen, der sich nun auf den rostfarbenen
Orientteppich zwischen unseren Stühlen gesenkt hatte.
    Ich sagte
ruhig: "Ihr Vater ist im Gefängnis?"
    "Ja."
Sie blickte langsam auf, als sie antwortete, fast überrascht, als hätte ich
diese Information auf telepathischem Wege erhalten.
    "Er
hat einen Mann getötet. Also, er wollte das nicht, aber er hat einen Mann
getötet."
    "Und
jetzt ist er im Gefängnis?"
    "Ja.
Ja, das ist er."
    Sie
errötete, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
    Ich werde
immer wieder berührt durch den Umstand, dass selbst ein bisschen Zuhören, die
auch nur angedeutete Möglichkeit einer freundlichen Behandlung, eine so
spontane Gefühlswallung hervorrufen kann. Das liegt wohl daran, dass uns kaum
jemals jemand wirklich zuhört. In meiner Arbeit als Psychologin werde ich
täglich daran erinnert, wie selten uns zugehört wird, jedem vom uns, und unser
Verhalten auch nur ansatzweise verstanden wird. Eine gewisse Ironie meines "zuhörenden
Berufes" liegt in der Lektion, dass jeder von uns letztlich in vielerlei
Hinsicht ein Rätsel für seine Mitmenschen bleibt.
    "Wie
lange ist Ihr Vater schon im Gefängnis?", fragte ich sie.
    "Ungefähr
41 Tage. Es war ein sehr langes Gerichtsverfahren. Während des Verfahrens war
er nicht im Gefängnis."
    "Und
Sie hatten das Bedürfnis, mit jemandem zu reden?"
    "Ja.
Ich kann nicht ... es ist so ... deprimierend. Ich glaube, ich werde depressiv.
Ich muss mit meinem Studium an der medizinischen Hochschule anfangen."
    "Medizinstudium?
Im September?"
    Es war
Juli.
    "Ja.
Ich wünschte, ich müsste nicht an die Uni."
    Die Tränen
flossen, leise, ohne Schluchzen, als ob der Rest von ihr nicht merkte, dass sie
weinte. Ihre Tränen strömten und tropften hinab auf ihre weiße Seidenbluse, wo
sie durchsichtige Flecken bildeten. Davon abgesehen blieb ihre Miene
unverändert, stoisch. Sie ließ sich die Tränen nicht anmerken.
    Ich finde
Stoizismus anrührend. Hannahs Unerschütterlichkeit war bemerkenswert, und mein
Interesse war geweckt.
    Mit beiden
Zeigefingern ordnete sie ihre glatten schwarzen Haare und schob sie hinter ihre
Ohren. Ihr Haar glänzte sehr, als hätte es jemand poliert. Sie sah an mir
vorbei zum Fenster und fragte: "Wissen Sie, wie es ist, wenn der eigene
Vater im Gefängnis sitzt?"
    "Nein",
antwortete ich, "vielleicht können Sie es mir erzählen."
    Und so
erzählte mir Hannah ihre Geschichte - oder zumindest einen Teil davon.
    Ihr Vater
war der Direktor der staatlichen High School des bürgerlichen Vorortes gewesen,
in dem Hannah aufgewachsen war, in einem anderen Bundesstaat, tausend Meilen
westlich von Boston. Hannah beschrieb ihn als außerordentlich liebenswürdigen
Mann, der ganz natürlich Menschen anzog - ein "Star", wie Hannah es
ausdrückte. Er wurde von Schülern, Lehrern und fast allen anderen Bürgern der
kleinen Gemeinde verehrt, in der die Schule lag. Immer war er beim Training der
Cheerleader dabei und sah sich alle Football-Spiele an. Es war ihm sehr
wichtig, ob die heimische Mannschaft gewann oder nicht.
    Geboren
und aufgewachsen im ländlichen Mittelwesten, hatte er "sehr konservative
Überzeugungen", sagte Hannah. Er war Patriot und trat für eine machtvolle
Landesverteidigung ein, für Bildung und das Recht der Bürger, sich

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