Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stout, Maria

Stout, Maria

Titel: Stout, Maria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Soziopath von nebenan
Vom Netzwerk:
"Wenn überhaupt, hat mir die ganze Geschichte wohl geholfen,
angenommen zu werden. Sein Fall war ein Grund dafür."
    Als sie ihre
Erzählung beendet hatte, nahm Hannah aus ihrer kleinen Lederhandtasche ein
Papiertaschentuch und begann, ihre Wangen und die Flecken auf ihrer Bluse
abzutupfen - obwohl sich gut sichtbar auf dem kleinen Tisch zu ihrer Linken
eine volle Schachtel mit Papiertüchern befand.
    "Sie
sehen also, ich brauche nicht wirklich eine 'Therapie'. Aber ich würde wirklich
gerne mit jemandem reden. Ich will auf keinen Fall so deprimiert sein, wenn ich
mit dem Medizinstudium anfange. Ich weiß nicht - meinen Sie, dass wir uns
einige Male treffen könnten?"
    Hannah
hatte mich gerührt mit ihrer Geschichte und ihrem Verhalten. Ich empfand großes
Mitgefühl für sie, und das sagte ich ihr auch. Im Stillen fragte ich mich, wie
viel Hilfe sie wohl tatsächlich würde annehmen können, von mir, der
psychologischen Traumatherapeutin, die sie angerufen hatte, weil sie meinen
Namen in einem Zeitungsartikel gelesen hatte. Wir vereinbarten, dass wir uns
für eine Weile einmal wöchentlich treffen würden, so dass Hannah mit jemandem
reden konnte. Die medizinische Hochschule, für die sie sich letztlich
entschieden hatte, war in Boston, und auf das Drängen ihrer Mutter hin war sie
unmittelbar nach ihrem Abschluss am College in den Osten gezogen, damit sie
sich einleben konnte, bevor die Vorlesungen begannen, weit weg von dem Wahnsinn
zu Hause. Ihre Mutter meinte, die Angelegenheit mit ihrem Mann sei "negativ"
für ihre Tochter. Ich hatte selten eine solche Untertreibung gehört und
versicherte Hannah, dass es vollkommen in Ordnung sei, wenn wir uns hin und
wieder treffen würden.
    Nachdem
sie gegangen war, ging ich eine Weile in meinem Büro auf und ab und sah aus dem
Fenster hinaus über die "Back Bay" von Boston, ging hinüber zum
Schreibtisch und schob einige Papiere auf dem breiten, unaufgeräumten
Schreibtisch hin und her, um dann wieder an das Fenster zu treten, wie ich es
häufig zu tun pflege nach einer Sitzung, in der mir jemand vieles erzählt hat,
aber nicht annähernd die ganze Geschichte. Als ich so auf- und abging,
interessierten mich weniger die juristischen und politischen Fragen des Wer,
Was, Wann und Wo als vielmehr die ewige Frage der Psychologie nach dem Warum.
    Hannah
hatte nicht nach dem Warum gefragt - "Warum hat mein
Vater geschossen? Warum hat er den Mann nicht einfach
laufen lassen?" Ich überlegte, dass sie es vielleicht emotional nicht
fertig bringen konnte, nach dem Warum zu fragen, da die Antwort zu belastend
hätte sein können. Die gesamte Beziehung zu ihrem Vater stand auf dem Spiel.
Und vielleicht war dies der Grund, warum sie mich brauchte - um ihr bei der
Navigation durch die möglichen Antworten auf diese bedrohliche Frage zu helfen.
Vielleicht war ihr Vater im Affekt des Moments gefangen gewesen, hatte fast
versehentlich den Schuss abgefeuert und den Eindringling tödlich in den Kopf
getroffen, "durch puren Zufall", wie es der Anwalt ausgedrückt hatte.
Oder vielleicht hatte ihr Vater tatsächlich geglaubt, dass seine Familie in
Gefahr sei, und sein Beschützerinstinkt war mit ihm durchgegangen. Oder
vielleicht war Hannahs Vater, der Familienmensch, dieser normale, bürgerliche
Schuldirektor, ein Killer.
    In den
folgenden Sitzungen, im Sommer und später im Herbst, als Hannah ihr
Medizinstudium aufnahm, erzählte sie mir mehr über ihren Vater. Bei meiner
Arbeit höre ich oft von Verhaltensweisen und Ereignissen, an die sich der
Patient selbst im Laufe seines Lebens gewöhnt hat, die mir aber entschieden
abnorm und manchmal alarmierend erscheinen. Diese Art von Schilderung bekam ich
bald von Hannah zu hören. Als sie ihren Vater beschrieb - wenn sie auch
offenkundig glaubte, von gänzlich unspektakulären Begebenheiten zu erzählen -,
gewann ich das Bild eines gefühlskalten Menschen, dessen niederträchtiges und
herrschsüchtiges Verhalten mich schaudern ließ. Ich verstand immer besser,
warum meine intelligente junge Patientin wie in einem Nebel verloren war, wenn
es darum ging, ihren Vater als das zu sehen, was er war.
    Ich
erfuhr, dass seine hübsche Frau und seine Tochter, die exzellente Schülerin,
für Hannahs Vater eher Trophäen waren als menschliche Wesen, und dass er sie
völlig ignorierte, wenn sie krank waren oder andere Probleme hatten. Aber
liebevoll legte Hannah die herzlose Behandlung durch ihren Vater anders aus.
    "Er
ist sehr stolz auf mich", erzählte sie,

Weitere Kostenlose Bücher