Stout, Maria
darüber klar zu werden, ob
er an dem wichtigen Meeting im Büro teilnehmen oder nach Hause zurückkehren
sollte, um seinen Hund Reebok zu füttern. Das Gewissen war, wie
wir wissen, Joes intervenierendes Gefühl der Verpflichtung, das seiner
emotionalen Bindung zu seinem Hund entsprang. Moralische
Abwägung war der Prozess, durch den er entschieden hat, worin genau
diese Verpflichtung bestand und wie sie zu erfüllen war. (Wie sehr wird der
Hund unter seinem Hunger leiden? Könnte er verdursten? Was ist wichtiger, das
Meeting oder Reebok? Was ist das richtige Verhalten?)
Woher
kommt sie, diese beinahe universelle Fähigkeit, moralische und ethische Fragen
jeglicher Art abzuwägen, von der Frage, ob man nun den Hund füttern sollte oder
nicht, bis hin zu der Frage, ob man eine Atomrakete abschießen sollte oder
nicht?
Die
systematische Untersuchung der moralischen Abwägung begann um 1930 mit dem
Schweizer Psychologen Jean Piaget. In einem seiner einflussreichsten Werke, Das
moralische Urteil beim Kinde, 60 hat Piaget
die Ansichten von Kindern über Autorität, Lügen, Stehlen und das Konzept der
Gerechtigkeit untersucht. Er begann, indem er detaillierte Beobachtungen von Kindern
unterschiedlichen Alters über ihr Verständnis von Regeln und durchgeführten
Spielen und ihre Interpretation moralischer Dilemmata protokollierte. Piaget
hatte einen "strukturellen" Ansatz; das heißt, dass seiner Meinung
nach menschliche Wesen sich schrittweise psychologisch und philosophisch
entwickeln, dass also jeder kognitive Entwicklungsschritt auf den
vorangegangenen aufbaut und dass alle Kinder die Schritte dieser Entwicklung in
derselben Reihenfolge vollziehen.
Piaget
beschrieb zwei allgemeine Stufen der Moralentwicklung. Die erste Stufe ist die "Moral
des Zwangs" oder "moralischer Realismus", auf der Kinder Regeln
gehorchen, weil sie Regeln als unabänderlich ansehen. Auf dieser schwarz-weißen
Stufe der Abwägung glauben kleine Kinder, dass eine bestimmte Handlung entweder
absolut richtig oder absolut falsch ist und dass ein Mensch zwangsläufig für
falsches und aufgedecktes Verhalten bestraft wird; eine Erwartung, die von
Piaget als "immanente Sanktionen" bezeichnet wurde. Die zweite von
Piaget beschriebene Stufe ist die "Moral der Kooperation" oder "Reziprozität".
Auf dieser Stufe empfinden Kinder Regeln als relativ und als unter bestimmten
Umständen modifizierbar, und ihr Konzept von Gerechtigkeit berücksichtigt die
Absichten anderer Menschen. Ältere Kinder können ihren Standpunkt "dezentrieren"
(ihn weniger egozentrisch machen), und moralische Regeln werden als wichtig
für das Funktionieren der Gesellschaft angesehen und nicht nur als ein Weg, ein
für den Einzelnen unerwünschtes Ergebnis zu vermeiden.
In der
Tradition von Piaget und auch beeinflusst von dem US-amerikanischen Philosophen
John Dewey begann der Psychologe und Pädagoge Lawrence Kohlberg 61 seine Arbeit über moralisches Urteilsvermögen in den späten Sechzigerjahren des
vorigen Jahrhunderts am Zentrum für moralische Bildung der Harvard-Universität.
Kohlbergs Ziel war es, herauszufinden, ob es tatsächlich universelle Stufen der
Moralentwicklung gibt.
Kohlbergs
Theorie basiert auf Interviews mit Knaben im Alter zwischen sechs und sechzehn
Jahren in den USA, Taiwan, Mexiko, der Türkei und auf der mexikanischen
Halbinsel Yucatan. Im Laufe dieser Interviews hörten sich die Kinder zehn
Geschichten an, die jeweils ein wie auch immer geartetes moralisches Dilemma
enthielten. Die bekannteste dieser Geschichten, eine kleine, vor fast vierzig
Jahren entstandene Skizze, weckt direkte Assoziationen zu der gegenwärtigen
Kontroverse um Pharmakonzerne und die Kosten rezeptpflichtiger Medikamente. Sie
beschreibt das Dilemma des Heinz und lautet sinngemäß folgendermaßen:
Heinz'
Frau liegt mit einer seltenen Art von Krebs im Sterben. Die Ärzte sagen, dass
es ein Medikament gäbe, das sie retten könnte; eine Radiumverbindung, die ein
Drogist in Heinz' Heimatstadt kürzlich entdeckt hat. Die Zutaten für die Droge
sind ohnehin teuer, und der Drogist berechnet überdies das Zehnfache dessen,
was es ihn kostet, das Medikament herzustellen. Der Drogist bezahlt
zweihundert Dollar für das Radium und berechnet seinen Kunden zweitausend
Dollar für eine kleine Dosis. Heinz bittet jeden, der ihm einfällt, ihm Geld zu
leihen. Trotzdem bekommt er nur tausend Dollar zusammen. Heinz erklärt dem
Drogisten, dass seine Frau ohne die Droge sterben würde und bittet
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