Stout, Maria
oder Hunderte oder mehr? Warum nicht so
viele Perspektiven, wie es menschliche Lebenslagen, Ideale und Wege gibt,
Kinder zu erziehen?
Ein
Beispiel für die Bedeutung von Umfeld und Kultur für das moralische
Urteilsvermögen ist die Arbeit von Joan Miller und David Bersoff an der
Universität Yale. 64 Miller und Bersoff haben US-amerikanische Kinder
und Erwachsene aus New Haven, Connecticut, im Vergleich mit hinduistischen
Kindern und Erwachsenen aus Mysore in Südindien untersucht. Sie weisen darauf
hin, dass die US-amerikanische Kultur ein sehr individualistisches Selbstbild
fördert - Selbstbestimmung und persönliche Leistung, für Knaben wie auch für
Mädchen -, im Gegensatz zur hinduistischen Kultur, die beide Geschlechter ein
Konzept wechselseitiger Abhängigkeiten lehrt - den Wert dauerhafter Bindungen
an andere Menschen und der Unterordnung persönlichen Ehrgeizes unter die Ziele
der Gemeinschaft.
In ihren
Untersuchungen der Moralentwicklung fanden Miller und Bersoff, dass indische
Hindus dazu neigen, zwischenmenschliche Verpflichtungen als gesellschaftlich
durchsetzbare moralische Gebote anzusehen, im Gegensatz zu der
US-amerikanischen Sicht, dass solche Pflichten Gegenstand persönlicher Entscheidungen
seien. So würde zum Beispiel die Frage, ob man für seine Schwester mit
Down-Syndrom sorgen solle, nachdem die Eltern dazu nicht mehr in der Lage
wären, von einem US-Amerikaner als eine Entscheidung angesehen werden, die zwar
moralische Implikationen hätte, aber doch seine freie Entscheidung wäre.
Dieselbe Situation würde von einem indischen Hindu als ein feststehender
moralischer Imperativ (Dharma) angesehen werden. Er würde erwarten, dass die
Familie die Erfüllung dieser Pflicht durchsetzen würde, sollte das notwendig
sein. Überdies glauben Inder, dass zwischenmenschliche Verpflichtungen ohnehin
natürlicher Bestandteil des selbstverständlichen Verhaltens der meisten Menschen
seien, im Gegensatz zu der Haltung von US-Amerikanern, die glauben, dass
gesellschaftliche Erwartungen und persönliche Wünsche fast immer im Gegensatz
zueinander stünden und dass man irgendwie einen "Kompromiss" zwischen
ihnen finden müsse.
Solche
Unterschiede in Wertesystem und früher Erziehung sind bedeutsam, und sie führen
zu vielfältigen Unterschieden bei der moralischen Abwägung in verschiedenen
Kulturen. Miller und Bersoff berichten, dass hinduistische Inder, Männer wie
Frauen, in ihrer Entwicklung von einer "Perspektive der Pflichterfüllung"
geprägt werden, einer Dimension des moralischen Urteils, die sowohl von der "Ethik
der Gerechtigkeit" als auch der "Ethik der Fürsorge" abweicht.
Abschließend stellen sie fest: "Unsere Ergebnisse implizieren, dass sich
qualitativ unterschiedliche Normen der zwischenmenschlichen Moral in der
US-amerikanischen und der hinduistischen indischen Kultur entwickelt haben, die
die gegensätzlichen in der jeweiligen Kultur vorherrschenden Selbstbilder
reflektieren."
Und doch,
trotz der vielen unterschiedlichen Prozesse des moralischen Urteils, die sich
in verschiedenen menschlichen Kulturkreisen entwickelt haben, ergibt die
abschließende Analyse, dass im Kern der Sache etwas Tieferes und Konstanteres
existiert. Dieses konstante psychische Element ist das Gefühl eines unlösbaren
Widerstreits zwischen moralischen Kräften. Eine allgemeine Vorstellung von Gut
und Böse als Dualität des menschlichen Lebens scheint erstaunlicherweise völlig
universell zu sein (zumindest für Sozialwissenschaftler erstaunlich). 65 Gut gegen Böse ist das zeitlose, kulturübergreifende menschliche Drama; und die
Untertöne eines anscheinend universellen moralischen Konflikts werden ohne
weiteres von beiden Geschlechtern in allen Kulturen erkannt. Ich würde
erwarten, dass eine Frau aus Südindien dieses fundamentale Verständnis einer
Teilung der moralischen Domäne hätte, und sie würde dasselbe von mir erwarten.
Wenn es zum Beispiel um den armen, verzweifelten Heinz geht, wird es -
unabhängig von einem Urteil, wie er sein Dilemma auflösen sollte, was er also tun oder
unterlassen sollte - eine allgemeine, womöglich stillschweigende Übereinstimmung
zwischen den Kulturen darüber geben, dass Heinz sich in seiner Verpflichtung
einem geliebten Menschen gegenüber von Beginn an auf höherem moralischen Niveau
bewegt und dass der egoistische Drogist sich verwerflich verhält.
Es gibt
keine globale Übereinstimmung im intellektuellen Prozess der moralischen
Abwägung selbst - der Art, wie
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