Stout, Maria
der Moralentwicklung, selbst auf der höchsten
Stufe, nicht berücksichtigt? Antwort:
Die
Beziehung zwischen Heinz und seiner Gattin, die sehr viel persönlicher und
vielleicht zwingender ist, als selbst das höchstentwickelte Verständnis der
allgemeinen Achtung vor dem Leben.
Und was
ist sehr wahrscheinlich der Hauptfehler von Kohlbergs Versuchsaufbau? Er
besteht darin, dass er ursprünglich seine moralischen Fragen nur an Knaben
gerichtet hat. Irgendwie ist es dem brillanten Sozialwissenschaftler Kohlberg
gelungen, die Hälfte der menschlichen Rasse zu übersehen.
Dieser
Unterlassung widmete sich 1982 Carol Gilligan in ihrem bahnbrechenden Buch In a
Different Voice: Psychological Theory and Women's Development 62 *. Als
Studentin von Kohlberg war auch Gilligan daran interessiert, ein universelles
Stufenmodell der Moralentwicklung weiterzuentwickeln; aber sie war in keiner
Weise einverstanden mit der eingeschränkten Substanz der moralischen Stufen,
die Kohlberg vorgeschlagen hatte. Kohlberg hatte ihrer Meinung nach ein Modell
der moralischen Abwägung entwickelt, das auf einer "Ethik der
Gerechtigkeit" basierte, einer Voreingenommenheit für "die Regeln",
seien sie nun konkret oder abstrakt. Gilligan war der Auffassung, dass Kohlberg
lediglich eine "Ethik der Gerechtigkeit" erarbeitet hatte, weil er
nur männliche Probanden interviewt hatte, und dass ein sehr unterschiedliches
Wertesystem zutage treten würde, wenn man Frauen interviewen würde. Sie
befragte Frauen, die wichtige Entscheidungen für ihr Leben zu treffen hatten,
und stellte fest, dass diese Frauen sich von fürsorglichen Motiven leiten
ließen, anstatt über "die Regeln" zu grübeln. Frauen, beschloss Gilligan,
folgten moralisch einer "Ethik der Fürsorge", im Gegensatz zu einer
männlichen "Ethik der Gerechtigkeit". Sie entwickelte die Theorie,
dass dies so sei, weil
*
Anmerkung des Übersetzers: Dieses Buch ist 1982 in deutscher Übersetzung unter
dem Titel Die andere Stimme - Lebenskonflikte und Moral der Frau im
Piper-Verlag (München) erschienen.
Mädchen
sich mit ihren Müttern identifizierten und mit größerer Wahrscheinlichkeit im
familiären Umfeld Erfahrungen machten, bei denen zwischenmenschliche
Sensibilität eine wichtige Rolle spielte.
Gilligan
führte eloquent aus, dass keiner dieser Standpunkte dem anderen überlegen war,
dass aber die beiden Ethiken schlicht mit zwei unterschiedlichen Stimmen
sprachen. Männer sprachen von Bindungen an gesellschaftliche und persönliche
Regeln, während Frauen von Bindungen an Menschen sprachen. Die Moralentwicklung
von Frauen basierte laut Gilligan nicht nur auf Änderungen der kognitiven
Fähigkeiten, sondern auch auf reifebedingten Änderungen der Wahrnehmung des
Selbst und des gesellschaftlichen Umfelds.
Das
postkonventionelle Urteil einer Frau über Heinz' Dilemma würde die Bedeutung
seiner Beziehung zu seiner Frau berücksichtigen und womöglich auch betonen,
dass die Forderung des Drogisten unmoralisch sei, da er einen Menschen dem Tode
anheim geben würde, obwohl er in der Lage sei, das abzuwenden. Gilligan war
davon überzeugt, dass die postkonventionelle Abwägung sich bei Frauen darauf
konzentriert, sich selbst oder anderen keinen Schaden zuzufügen, was konkreter
und beziehungsorientierter ist - und in vielerlei Hinsicht anspruchsvoller -
als ein allgemeines Prinzip wie die Achtung vor dem Leben.
Dank Carol
Gilligan wissen Psychologen und Pädagogen inzwischen, dass moralische Abwägung
mehrere Dimensionen hat und dass die Entwicklung der Moral bei Menschen sehr
viel komplexer ist, als wir zunächst geglaubt haben. In den vergangenen zwanzig
Jahren haben neuere Studien gezeigt, dass Frauen wie Männer sowohl eine "Ethik
der Fürsorge" als auch eine "Ethik der Gerechtigkeit" in ihrer
jeweiligen moralischen Abwägung anwenden mögen. Diese beiden Stimmen sprechen
in einem komplexen Chor, und die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind
sehr viel verschlungener als eine einfache, unzweideutige Trennlinie zwischen
allen Frauen und allen Männern.
Wir wissen
inzwischen auch, dass es wahrscheinlich keine universellen Stufen der
Moralentwicklung gibt, die alle menschlichen Wesen überall durchlaufen, selbst
wenn wir die menschliche Rasse qua Geschlecht zweiteilen. Kultureller
Relativismus existiert selbst in der Domäne der Moral. Und wenn moralische
Abwägung zwei Dimensionen hat, einerseits Gerechtigkeit und andererseits Fürsorge,
warum dann nicht drei Dimensionen -
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