Sträfliche Neugier
äußeren Einwirkungen feststellte, attestierte er ein normales
Herzversagen und stellte den Totenschein aus. Der Leichnam wurde zunächst im
Schlafzimmer aufgebahrt, am folgenden Tag sollte dann die Überführung ins
Krematorium stattfinden. In seiner Brieftasche fand man neben seinem
Personalausweis einige handschriftliche Anweisungen für den Todesfall. So hatte
er seine Schwester Martina Curtius als Alleinerbin benannt und bestimmt, dass
die Urne mit seiner Asche in der Nordsee versenkt werden solle.
Julia benutzte die günstige Gelegenheit und holte sich jetzt
das Tagebuch mit dem roten Rücken, das sie erst kürzlich in der Hand hielt; es
lag noch am gleichen Platz. Darunter entdeckte sie noch einige Schulhefte,
deren Etiketten fein säuberlich beschriftet waren. Jedes Heft enthielt
Aufzeichnungen über von Doktor Curtius in den Mikrokosmos unternommene
Expeditionen. Erstaunt las sie Titel wie ›Eine Reise unter die Erde‹, dann steckte sie die Hefte zusammen mit dem Tagebuch in ihre Einkaufstasche. Dabei
verspürte sie kein schlechtes Gewissen, denn diese Aufzeichnungen wären
vermutlich im Müll gelandet.
An der Trauerfeier wollte sie nicht teilnehmen, denn sie
hatte erst kürzlich das fragwürdige Vergnügen gehabt, die Schwester des Doktors
bewirten zu müssen. Diese dicke, keifende und schwatzhafte Person war ihr einfach
zuwider. Ihr wollte sie bei der Aussegnung nicht ein weiteres Mal begegnen.
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40
Heimkehr
A ls
Julia nach diesem ereignisreichen Tag in ihre Wohnung zurückkehrte, konnte sie
es kaum erwarten, die mitgebrachten Aufzeichnungen zu lesen. Nachdem sie sich
einen Tee zubereitet hatte, setzte sie sich in ihren bequemen Korbsessel.
Neugierig schlug sie das Tagebuch des Doktor Curtius auf, als das Telefon
läutete. Die Stimme ihrer Mutter klang sehr aufgeregt:
»Liebstes, du musst ganz rasch nach Hause kommen. Papa ist
sehr krank, er hatte einen Herzinfarkt und es steht ganz schlecht um ihn.«
Hektisch packte Julia ihre Sachen zusammen und fuhr zu
ihren Eltern. Aber sie kam zu spät, ihr Vater war wenige Stunden zuvor
verstorben. Er war schon seit längerer Zeit herzkrank, aber trotzdem kam sein
Tod für alle überraschend. Zu der Beerdigung auf dem Münchner Waldfriedhof
erschienen viele von Film und Fernsehen bekannte Gesichter, denn Walter Abel
war als Kommissar Kamper in die Geschichte der Fernsehkrimis
eingegangen.
Julia konnte ihre Mutter nicht alleine lassen, kündigte die
Wohnung in Burgstadt und zog wieder im Elternhaus ein. Aber schon wenige Monate
nach dem Tod des Vaters erkrankte auch ihre Mutter ernsthaft. Die hatte ihre
Karriere als Pianistin Patrizia Hoff gleich nach der vermeintlichen Ermordung
Roberts infolge schwerer Depressionen beenden müssen. Nun verfiel sie zusehends
und wurde ein Pflegefall. Julia betreute sie noch zwei Jahre daheim, doch als
die Diagnose Alzheimer lautete, blieb als einzige Alternative das
Pflegeheim. Dort verstarb sie bereits nach wenigen Monaten.
Durch Zufall erhielt Julia eine Planstelle als Hauswirtschaftslehrerin
an ihrer alten Hotelfachschule. Trotzdem betrachtete sie das nur als
vorübergehende Lösung, denn die Tätigkeit als Wirtschafterin in einem privaten
Haushalt entsprach mehr ihren Interessen. Außerdem wurde ihr schon bald die
Arbeit zuviel, die Haus und Garten neben dem Beruf nun einmal mit sich brachte.
Darum verkaufte sie das elterliche Anwesen und erwarb von einem Teil des
Erlöses eine Dreizimmerwohnung in einem westlichen Vorort Münchens.
Anlässlich des Umzugs entdeckte sie wieder das Tagebuch und
die Berichtshefte, die sie nach Doktor Curtius’ Tod mitgenommen hatte und die
sich säuberlich gebündelt in einem Karton auf dem Speicher befanden. An diese
Unterlagen hatte sie in den beiden Jahren, in denen sie neben dem Beruf noch
die Mutter pflegen musste, gar nicht mehr gedacht.
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41
Die
Tagebücher
N achdem
Julia ihre neue Wohnung bezogen hatte, konnte sie es kaum erwarten, sich
endlich und in Ruhe mit den Aufzeichnungen des Doktor Curtius zu befassen.
Bereits am ersten Sonntagvormittag legte sie alles auf ihrem Schreibtisch
zurecht und machte sich mit einem Stoßseufzer an die Sichtung des umfangreichen
Stapels. Zuerst blätterte sie in den einzelnen Heften, in denen Doktor Curtius
akribisch die Einzelheiten über seine Expeditionen eingetragen hatte.
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