Sträfliche Neugier
oft fragte ich mich schon, was ›Zum
15. Geb. am 20/9/....D.F.‹ zu bedeuten hat. Natürlich bedeutet es nichts
anderes als ›Deine Franzi‹ und der 20. September ist demnach unser
gemeinsamer Geburtstag, also bereits übermorgen! Wir beide sind jetzt
neunundzwanzig Jahre alt. Was meinst du, soll ich nach München fahren? Ob
Franzi dort sein wird? Würde ich sie wiedererkennen, sie ist ja nicht mehr die
kleine Schwester von fünfzehn Jahren?«
Susanne legte ihren Arm auf seine Schulter:
»Geschwister, vor allem Zwillinge, erkennen sich immer
wieder, auch nach Jahren der Trennung und trotz äußerlicher Veränderungen. Es
sind die Augen, die Bewegungen des Körpers und die ganze Mimik, die eine
besonders enge familiäre Bindung verraten. Schließlich seid ihr beide zur
selben Zeit im Mutterleib herangewachsen und habt nicht nur äußerliche
Ähnlichkeiten. Du wirst sehen: Wenn deine Franzi in München auf dich wartet,
dann wird sie dich erkennen und umgekehrt du sie. Ich an deiner Stelle würde
also unbedingt hinfahren!«
Am 20. September holte Markus am frühen Morgen das Auto aus
der Garage und machte sich auf die etwa zweistündige Fahrt nach München. Wegen
der schwierigen Parkplatzsituation in der Innenstadt stellte er den Wagen
bereits am östlichen Stadtrand ab und fuhr mit der S-Bahn zum Marienplatz. Es
verblieb ihm noch etwas Zeit bis 12 Uhr, darum machte er noch einen kurzen
Stadtbummel und kaufte einen Strauß mit roten Rosen – für alle Fälle. Dann
schaute er auf die Uhr, es war fünf Minuten vor zwölf. Markus war ziemlich
aufgeregt, sein Herz pochte wie wild, und trotz der kühlen Luft geriet er ins
Schwitzen. Langsam bummelte er über den Marienplatz bis zu der hoch aufragenden
Mariensäule. Er blieb davor stehen betrachtete interessiert diese wunderschöne
Skulptur und sinnierte: ›Ob Franzi wohl kommt? Wie, wenn ich sie doch nicht
wieder erkenne? Aber Susanne wird wohl recht haben: Geschwister werden sich
niemals fremd. Auch nicht nach so vielen Jahren?‹
Unzählige Menschen hatten sich auf dem Platz versammelt,
Touristen aus aller Herren Länder, besonders viele Italiener und Japaner.
Täglich um 11 und 12 Uhr beginnt im 80 Meter hohen Rathausturm das größte
Glockenspiel Deutschlands mit Schäfflertanz und Ritterturnier. Das ist eine
echte Attraktion, die kaum ein Besucher Münchens versäumen will. Alles starrte
schon gebannt nach oben, um ja nichts zu verpassen. Wie sollte Markus in diesem
Gewimmel eine einzige Person herausfinden, die richtige, die er so sehnsüchtig
erwartete? Aus Richtung Kaufingerstrasse sah er ein junges Mädchen auf sich
zukommen. Nein, das war sie nicht. Franzi war ja schon älter und bewegte sich
ganz anders. Auch war Franzi schon damals größer als jetzt dieses Mädchen.
In den folgenden Minuten gingen noch viele Gruppen von
Männern und Frauen an dem Wartenden vorbei. Aber Franzi war nicht dabei. Nein,
sie würde wohl nicht kommen. Das war damals nichts als ein dummes, kindisches
Versprechen. Bestimmt denkt sie gar nicht mehr daran. Wer weiß, wo sie jetzt
lebt, vielleicht in Übersee oder sonst wo, ist verheiratet, hat einen Stall
voll Kinder und ihren Bruder längst vergessen.
Es war Punkt 12 Uhr und das Glockenspiel begann. Vom
Fischbrunnen her näherte sich jetzt eine Frau mittleren Alters. Sie trug eine
Umhängetasche und sah wie jede andere Touristin aus. Ihre hochgesteckten
blonden Haare wurden durch eine silbern glänzende Metallspange gehalten, die
mit vielen bunten Schmucksteinchen verziert war. Mit langsamen Schritten kam
sie auf die Mariensäule zu, blieb stehen, schaute nach oben und schien nur
Interesse an der vergoldeten Marienskulptur zu haben. Auch Markus setzte sich
nun in Bewegung und schlenderte langsam an dem Monument vorbei. Aus den
Augenwinkeln betrachtete er die Frau, die ihm zunächst noch fremd erschien. Auf
einmal zuckte es wie ein Blitz durch sein Gehirn: die Haarspange! Das ist doch
die Haarspange, die ich Franzi zu ihrem fünfzehnten Geburtstag geschenkt hatte! ›Franzi‹ , dachte er, ›Franzi, meine liebe Franzi! Bist du es
wirklich?‹
Verlegen ging er auf die Frau zu. Er wollte sie ansprechen,
aber es fehlte ihm der Mut dazu, und so wandte er sich wieder von ihr ab. Auch
die Frau schien etwas unsicher zu sein, aber dann ging sie geradewegs auf ihn
zu, schaute ihm in die Augen und fragte:
»Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir sagen, wie spät es
ist?«
Markus schlug den linken Jackenärmel zurück und
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