Sträfliche Neugier
für die kleinen
Landwirte von Jahr zu Jahr schwieriger, sich über Wasser zu halten. Da stieg
mein Onkel Xaver aus. Er betrieb schon immer nebenbei einen Handel mit
Leckereien, wie zum Bespiel Lebkuchenherzen mit Sprüchen wie ›Ich liebe
dich‹ oder ›Mein Herz macht bum-bum‹ oder ›Mamas
Liebling‹. Solche Sachen lieferte er an die Verkaufsbuden auf Volksfesten
wie dem Oktoberfest. Das Geschäft florierte und so baute er es nach und nach
weiter aus; inzwischen ist eine renommierte Firma daraus geworden. Einer ihrer
Werbeslogans lautet übrigens ›Nimm dir ein Herz – von Xaver Merz‹.
Mein Vater verkaufte dann alles Vieh bis auf zwei Pferde.
Das ehemalige Gesindehaus und einen Teil der alten Stallungen bauten wir zu
Ferienwohnungen um, der Staat gab hierfür erhebliche Zuschüsse, um den
Fremdenverkehr in unserer Region zu fördern. Als dann die ersten Familien aus
der Großstadt anreisten, waren unsere beiden Pferde Ronny und Silvia die Lieblinge aller Kinder. Ich sollte das alles mal erben. Als ich die Schule
beendet hatte, riet mir mein Vater, eine Ausbildung zum Pferdefachwirt zu
machen, dann könnten wir eine eigene Pferdezucht mit einem Reiterhof gründen.
Dieser Rat war wirklich gut. Ich fand einen Ausbildungsplatz im Münsterland
ganz in der Nähe von Warendorf. Diese Gegend ist berühmt für die Aufzucht von
Reitpferden. Nach drei Jahren hatte ich meinen Gesellenbrief als Pferdefachwirt
in der Tasche. Das ist nun schon eine ganze Weile her. Inzwischen habe ich
meinen Betrieb weiter ausgebaut, besitze zwei Dutzend guter Reitpferde und
vermiete auch Boxen für Pferdebesitzer. Meine Eltern verstarben leider vor einigen
Jahren.«
Claudia hatte stillschweigend zugehört, dann fragte sie:
»Warum machen Sie denn hier Urlaub, quasi vor Ihrer
Haustür, wo Sie doch im Bayerischen Wald leben und selber Ferienwohnungen
vermieten?«
»Das hat einen besonderen Grund. Ich leide nämlich unter
einer schweren Allergie, speziell an Heuschnupfen. Doktor Mayrhöfer riet meinem
Onkel Xaver, mich zu einer Kur nach hier zu schicken, die für mich nichts
kosten würde. Und deswegen bin ich jetzt hier.«
»Dann kennt Doktor Mayrhöfer Ihren Onkel wohl sehr gut?”,
meinte Claudia.
»Eigentlich nicht. Aber da gibt es eine alte Schuld, die
Doktor Mayrhöfer meinem Onkel gegenüber noch begleichen wollte.«
Und dann erfuhr Claudia von Sebastian Merz alles, was ihm
sein Onkel über die Mitnahme eines hilflosen Jungen vor fast fünfzehn Jahren
erzählt hatte.
»Doktor Mayrhöfer hatte Onkel Xaver hierher eingeladen, er
wollte sich für dessen damalige Hilfeleistung nachträglich bedanken. Onkel
Xaver verbrachte dann bei dem Ehepaar Mayrhöfer einen wunderschönen Tag. Dabei
erfuhr er von den neuzeitlichen Naturheilmethoden, die Doktor Mayrhöfer
anwendet, wo immer es Erfolg verspricht. Na ja, das Gespräch kam schließlich
auf mich, und nun bin ich hier. In drei Tagen fahre ich wieder nach Hause, die
Pferde warten auf mich. Zum Glück gibt es dort nette Mädchen, echte
Pferdenärrinnen, die meinen Mitarbeitern tüchtig bei der Stallarbeit helfen.
Aber nun habe ich Ihnen soviel von mir erzählt, doch über Sie weiß ich noch gar
nichts.«
Fast eine Stunde lang trug Claudia ihrem Nachbarn ihre
Leidensgeschichte vor. Sie berichtete von ihren Ängsten, ihren Komplexen und
ihrem zurückgezogenen Leben.
»Wir – also mein Bruder Max und ich – haben uns immer
wieder gefragt, wie es denn sein konnte, dass wir die erlogenen
Abenteuergeschichten des Doktor Curtius für bare Münze gehalten hatten.
Schließlich waren wir noch auf seine Mixturen gestoßen und hatten uns nichts
dabei gedacht, davon zu kosten. Obwohl wir ja keine kleinen Kinder mehr waren,
sind wir doch so naiv gewesen, uns von den Lügenmärchen dieses selbsternannten
Erfinders verführen zu lassen. Anscheinend verfügte er über enorme suggestive
Kräfte, denn sonst wären wir ihm nicht auf den Leim gegangen. Als Ergebnis
dieser Riesendummheit sehen Sie nun ein hässliches und verschrumpeltes Weib vor
sich.«
»Ganz im Gegenteil! Die Mayrhöfersche Therapie scheint bei
Ihnen besonders gut gewirkt zu haben. Denn in meinen Augen sind Sie eine
wirklich hübsche junge Frau!«
Als Claudia daraufhin in Tränen ausbrach, legte Sebastian
seine Hand tröstend auf ihren Arm.
»Weinen sie ruhig, das muss manchmal sein und wirkt
befreiend. Sie brauchen sich deswegen nicht zu schämen.«
Allmählich fasste sie sich und sagte: »Vielen Dank, dass
Sie mir wieder
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