Sträflingskarneval
Blickfeld verschwand. Er musste über sich selbst lachen, jetzt erschreckte er sich sogar schon vor Mäusen.
„Aidan, wo bleibst du denn?“, rief Ryan nach ihm und streckte den Kopf aus dem Gang heraus. „Wir warten auf dich, oder willst du doch lieber hier bleiben?“
„Nein“, erwiderte er entschlossen und ließ sich von der Maus nicht aufhalten. Über sich selbst den Kopf schüttelnd, lief er Ryan hinterher.
Der gesamte Weg bis zum Versteck kam den vier Freunden unheimlich lange vor. Raoul hatte nicht übertrieben, indem er zuvor die schmalen Gänge als Irrgarten bezeichnet hatte. An jeder zweiten Abzweigung führte er sie in eine andere Richtung. Vorbei ging es an unzähligen Nischen und Sackgassen, die auf den ersten Blick wie ganz normale Gänge aussahen, sie jedoch in der Dunkelheit nach etlichen Metern in massivem Mauerwerk endeten, wie Raoul ihnen erklärte.
Schließlich erreichte die Gruppe die letzte Biegung und fand sich am Eingang zu einer – wie sie gleich erfahren sollten – gewaltigen Höhle wieder. Raoul steuerte geradewegs auf einen niedrigen Steinbrunnen zu, kaum größer als eine gewöhnliche Haushaltsschüssel. Er hielt die brennende Fackel an eine darin schwimmende Flüssigkeit und binnen Sekundenbruchteilen fing diese Feuer. Die Flammen wanderten über eine schmale Rinne bis zu einem weiteren kleinen Brunnen, der gleich darauf den nächsten entzündete und so weiter und so weiter.
Innerhalb weniger Augenblicke wurde die gesamte Höhle durch das ausgeklügelte System aus hunderten von Brunnen erhellt, die durch unzählige Rinnen miteinander verbunden und mit Petroleum gefüllt waren.
Mit offenen Mündern wanderten ihre Blicke über Jahrtausende alte Schätze. Überall lagen sie auf dem Steinboden verstreut, in uralten Holztruhen verstaut, auf Tischen ausgestellt und in Regale einsortiert. Es waren Kostbarkeiten von unschätzbarem Wert. Gold und Silber, Papyrus und Pergamente, Kohleskizzen und Ölgemälde, Hieb- und Stichwaffen, Schmuck und Münzen, Statuen aus Stein, aus Gold und Marmor, Gerätschaften aus Holz und Metall. Aberhunderte Folianten nahmen einen gesonderten Platz an einer Wand ein und niemand musste ihnen erklären, dass darin das gesamte Wissen der Djed niedergeschrieben war, fein säuberlich für die Nachwelt erhalten. Diese Schatzkammer barg mehr als nur das bloße Wissen der Menschheit, hier standen sie mitten in der lebendig gewordenen Geschichte. Hier existierten Götter und Gottlose, Gutes und Böses, Licht und Schatten, Leben und Tod - alles schweigend nebeneinander und zugleich behaftet mit der einfachen Erkenntnis, dass die Menschen einen großen Teil dieses Wissens darstellten. So unglaublich wie das Leben selbst, war das Leben in diesen Schätzen über all die Zeit immer wieder neu geboren worden.
Der Anblick raubte den Freunden schier den Atem. Plötzlich waren sie in den Geheimnissen der Zeiten gefangen und konnten sich nur schwer davon losreißen. Wie in Trance liefen sie, jeder in eine andere Richtung, tiefer in die Höhle hinein. Ihre Augen funkelten, und bei jedem neuen Gegenstand, den sie entdeckten, glaubten sie zu träumen. Ihnen war die Ehre zuteilgeworden etwas sehen zu dürfen, was vor ihnen kaum ein Mensch gesehen hatte und das die Menschheit niemals sehen durfte. Es war so unfassbar, so unbeschreiblich … und wunderschön.
Vorsichtig näherte sich Ryan einer mit Gold verzierten Liegestätte. Darauf ruhte ein einbalsamierter Leichnam in uralten Leinentüchern auf einer Schicht getrockneter Blüten und Blätter, die einen starken Duft nach Patschuli verströmten. Er zog die Nase kraus, doch seine Neugier wurde immer größer. Fasziniert streckte er eine Hand aus und berührte behutsam die Mumie, wobei er ein Schaudern unterdrückte.
„Das ist Osiris‘ Mumie“, flüsterte Raoul ehrfürchtig direkt hinter ihm und grinste, als Ryan erschrocken zusammenzuckte und ihn einen Moment lang wütend anstarrte. „Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Das hatte ich auch nicht angenommen.“ Ryan seufzte und entspannte sich wieder. „Sag mal … das ist … ähm … du meinst das doch nicht ernst, oder? Das ist Osiris‘ Mumie? Versteh mich nicht falsch, aber Osiris war ein ägyptischer Gott und kein Mensch.“ Seine gerunzelte Stirn unterstrich dabei seine Skepsis.
„Genauer gesagt war Osiris der Gott der Fruchtbarkeit und des ewigen Lebens. Er war der Bruder des Seth, der die Unterwelt beherrschte, doch aus Eifersucht
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