Sträflingskarneval
wurde.
„Jetzt wird es erst richtig heikel.“ Sie schluckte und sah stur geradeaus. „Unser neuer Großmeister hat von der engen Freundschaft der beiden Familien erfahren und auch davon, dass Rossalyn mehr über das alte Gesetz weiß, als ihm lieb ist. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, die alte Abschrift der McGraths unbedingt selbst zu besitzen, weil darin angeblich ein uralter Wegweiser versteckt sein soll. Wohin der führt, hat mir Mrs. Buckley nicht gesagt. Es ist irgendwie alles recht merkwürdig und verworren. Mrs. Buckley glaubt, er wollte über Gilleans Mutter an Rossalyn herankommen, damit es in der Öffentlichkeit nicht auffällt. Aber anscheinend hat er nicht das bekommen, was er wollte, und hat deshalb …“, sie stockte und holte einmal tief Luft. „Nun ja, du weißt schon. Mit absoluter Sicherheit steht jedenfalls fest, dass Rossalyn auf der Liste von Hinthrones Verdächtigen ganz weit nach oben gerückt ist. Wir stehen da übrigens auch drauf, also müssen wir verdammt vorsichtig sein und nichts tun, was uns irgendwie verraten könnte.“
„Langsam wird das echt zu absurd“, knurrte Ryan und dachte an berühmte Agentenfilme zurück. „Von der Abschrift wissen wir zwar, aber nur, weil Rossalyn es uns gesagt hat.“
„Ryan …“ Kimberly legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Selbst wenn wir es nicht wüssten, Hinthrone und seine Leute wissen es und nur das zählt. Sie wollen diese Abschrift mit allen Mitteln, weil es das einzig noch existierende Original ist. Warum und wieso, weiß ich nicht. Wenn ich raten müsste, dann will Hinthrone die Abschrift zerstören und damit auch diesen uralten Wegweiser.“
„Das ergibt doch gar keinen Sinn!“ Ryan wurde allmählich sauer auf den Großmeister, den er seit der Verhandlung ohnehin verabscheute.
„Irgendwie aber doch.“ Kimberly seufzte und innerlich teilte sie Ryans Zorn. „Überleg doch mal, wenn …“
Mitten im Satz wurde Kimberly von einem lauten Schrei unterbrochen. Beide schauten nervös aus dem Fenster und starrten geschockt nach unten. Ihr Gespräch war schlagartig vergessen.
- 5 -
Kann es noch schlimmer werden?
Im Licht der herbstlichen Nachmittagssonne standen Sträflinge und Aufseher in einem großen Halbkreis zusammen, ihnen gegenüber hatte sich eine Traube Schüler versammelt. In deren Mitte prügelten sich zwei junge Männer, einer davon war Aidan McGrath. Aidan lag auf dem staubigen Boden und wehrte sich mit Händen und Füßen gegen einen Schüler, der ihm haushoch überlegen war. Vom Fenster aus sahen Ryan und Kimberly nicht besonders viel, einzig das anfeuernde Gekreische drang unvermindert zu ihnen nach oben.
„Scheiße!“, stieß Ryan aus. „Was wird das, wenn’s fertig ist? Das bringt nur noch mehr Ärger.“
„Komm“, entgegnete Kimberly und rannte zur Tür.
Gemeinsam rasten sie die Treppe herunter, vorbei an einer verdutzten Schülerschaft, und erreichten kurz darauf den Ort des Geschehens. Noch etwas außer Atem erfassten sie die Situation. Ihre Mitschüler riefen immer wieder abwechselnd: „Merriweather hat angefangen“ und „Mach‘ ihn fertig, Merriweather! Sie tauschten einen besorgten Blick aus, dann kämpften sie sich durch die dichter gewordene Schülerschar. Jeder wollte wissen, was hier passierte. Trotz Schubsen und Drängen kamen sie aber nur langsam voran, doch dann endlich erfassten sie die Katastrophe mit eigenen Augen.
Zebediah Merriweather, ein braunhaariger, großer und stämmiger Sechszehnjähriger aus der Klasse unter ihnen, wurde von drei Aufsehern mit Gewalt festgehalten, aber Zebediah wandte sich in ihrem gnadenlosen Griff und wollte auf Aidan zustürmen.
Der wiederum wurde von zwei Wachen zurückgehalten, presste die Zähne fest aufeinander und ballte die Hände zu Fäusten. Er war außer sich vor Zorn; und hätte er gekonnt, hätte er Zebediah wahrscheinlich den Schädel eingeschlagen.
Ryan kannte Aidans Fäuste gut, früher waren sie mehr als einmal aneinandergeraten. Aber er hatte Aidan noch nie so wütend erlebt wie in diesem Augenblick. Außerdem war er schlimm zugerichtet worden. Die Unterlippe war aufgeplatzt und ein paar Blutstropfen rannen ihm das schmutzige Kinn hinunter. Der ohnehin alte Fetzen, der einst sein Hemd darstellte, war in zwei Hälften zerrissen und gab den Blick auf seinen abgemagerten, mit blauen Flecken und roten Striemen übersäten Oberkörper frei. Die rechte Augenbraue blutete ebenfalls und ein Stück unterhalb des Auges
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