Sträflingskarneval
plötzlich in Urgroßvaters Fußstapfen tritt und sich um alles auf Omey Island kümmern muss. Was sagst du zu ihrer Warnung?“
„Ich kann es dir nicht genau sagen, aber ich finde es unheimlich. Man kann ihre Angst schon fast spüren. Ich frage mich eher, was sie von mir will.“
„Sie will etwas Wichtiges mit dir besprechen. Aber was? Ich habe keine Ahnung.” Ryan zuckte mit den Schultern und dann fiel ihm ein, was er bei seiner Begegnung mit Aidan McGrath erlebt hatte. Auf dem Weg zum Unterricht erzählte er seiner Freundin von dem Vorfall.
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Rätsel über Rätsel jagen die Wahrheit
Fast drei Wochen waren seit dem Zusammentreffen vergangen. Inzwischen hatte Kimberly eine lange Antwort an Rossalyn McGrath geschrieben und ihr mitgeteilt, dass sie versuchten ihrer Bitte so gut es ging nachzukommen. Doch das war einfacher gesagt als getan. Der Unterricht forderte sie, zudem machten sich beide Sorgen um Aidan. Vor allem Kimberly stand ihre Sorge sichtbar ins Gesicht geschrieben. Sie wirkte oft abwesend, war unausgeschlafen und machte meist eine traurige Miene. Und da war noch etwas. Es zehrte an ihr und Ryan vermutete, es hing mit dem Gespräch mit Mrs. Buckley zusammen. Er wusste nicht, was sie miteinander besprochen hatten, denn Kimberly schwieg beharrlich, und ihm wollte keine Idee kommen, warum.
Es war Samstagnachmittag, und Ryan saß in dem überfüllten Gemeinschaftsraum der Schüler und wartete nervös auf Kimberly. Sie war bereits sehr früh aufgestanden und mit dem Boot weggefahren. Er verbrachte die Zeit bis zu ihrer Rückkehr mit Hausaufgaben und Lernen, doch beides wollte ihm nicht recht gelingen. Seine Gedanken schweiften immer wieder zu Aidan und der Bestrafung ab. Wenn er nicht aufpasste, würde dieses Thema ihn bald völlig vereinnahmen und nicht mehr viel Raum für die Schule lassen. Geistig wanderte er zur östlichen Außenmauer, wo er ihn gestern Mittag das letzte Mal gesehen hatte. Er hatte ihn heimlich aus einem der Klassenzimmerfenster beobachtet, als der Blonde mit anderen Sträflingen und mit Hilfe von Beilen und schweren Hämmern einen großen Schutthaufen zerlegte, der vor dem Angriff einmal eine Außenwand gewesen war. Wenn sich nicht bald etwas änderte, würde Aidan vor Erschöpfung umfallen und nicht mehr aufstehen. Ryan fragte sich, ob es für die Sträflinge wohl auch ein Wochenende gab. Doch spielte es für sie überhaupt eine Rolle?
Seine Neugier packte ihn. Er stand auf, stopfte die Schulbücher in seinen Rucksack, schwang ihn auf den Rücken und lief aus dem Gemeinschaftsraum nach oben in den ersten Stock. Durch das Fenster des Geschichtslehrsaales hatte er Aidan gestern beobachtet, vielleicht würde er ihn heute auch sehen und somit eine Antwort auf seine Frage erhalten.
Wenige Minuten später trat Ryan in den Raum, schloss die Tür hinter sich und ging zum hohen Fenster hinüber. Er setzte den Rucksack ab und starrte mit einem seltsam mulmigen Bauchgefühl zu dem nahe gelegenen Waldrand und dem Schutthaufen. Widerwillig überlegte er, was er empfinden würde, wenn Aidan nicht dort unten arbeitete. Der Ursprung dieser Frage war ihm allerdings völlig schleierhaft. In letzter Zeit war er sich eigentlich über gar nichts mehr sicher. Schließlich entdeckte er Aidan sofort und hatte damit die Antwort auf seine Frage. Für Sträflinge gab es keine Wochenenden. Sein mulmiges Gefühl schwoll schlagartig an, es breitete sich in rasender Geschwindigkeit aus und ließ ihn kurz, aber heftig erbeben.
Aidan schob mit aller ihm verbleibenden Kraft eine Schubkarre voll Schutt zu einem Geröllhaufen, wo wiederum andere den Schutt weiter zerkleinerten. Auf mehr achtete Ryan nicht, er hatte nur Augen für seinen ehemaligen Klassenkameraden. Auf Aidans Gesicht glitzerte der Schweiß, er hatte die Ärmel seines kaputten und verdreckten Hemdes hochgekrempelt und versuchte, mehr schlecht als recht, den Peitschenhieben eines Aufsehers zu entgehen, der ihn zur Eile antrieb. Hätte Ryan es in diesem Augenblick hören können, dann hätte er das widerliche Klatschen von Leder auf nackter Haut vernommen. Allein der Gedanke daran ließ ihn erneut erschaudern. Trotz der Entfernung konnte er Aidans schmerzverzerrtes Gesicht erkennen, der eisern die Lippen zusammenpresste.
„Er tut mir leid“, schreckte ihn plötzlich Kimberly auf. Mit rasendem Herzschlag drehte er sich nach rechts und sah dort seine Freundin stehen, die ebenfalls das Geschehen beobachtete.
„Mein Gott, Kim! Erschreck
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