Sträflingskarneval
doch langsam dämmerte ihm, dass er sie vermutlich nur grundlos aufgescheucht hatte. So war es nicht mehr möglich, so einfach mit Aidan und Lawren hinausspazieren und den Wachen irgendein Märchen aufzutischen.
Schließlich erreichten sie das geheime Kellerverlies und Ryan verdrängte vorerst jeden Gedanken an Flucht; sie wurden von der hier herrschenden Finsternis förmlich verschluckt. Es war totenstill, kalt, feucht und erdrückend. Nichts, weder die Felswände noch der harte Steinboden oder die hohe Gesteinsdecke boten Entspannung, sondern verstärkten lediglich die Furcht. Sie waren in eine Welt eingetaucht, die niemals das Sonnenlicht erblickt hatte.
Aidan seufzte beklommen. Das Gewölbe wirkte so unwirklich, völlig außerhalb seiner Realität. Und hier unten sollte sein Vater gefangen gehalten werden? Kein normaler Mensch konnte in dieser ewigen Schwärze länger als ein paar Tage ausharren. Bereits in seiner Zelle dachte er stets, er würde den Verstand verlieren, doch das war nichts im Vergleich zu dieser grausamen Folter.
„Duncan, bring uns zu Lawren“, forderte Ryan und nahm Aidans Hand. Er konnte seinedessen Angst spüren, wobei erRyan nicht zu sagen vermochte, ob er sein Freund sich wegen der Finsternis oder vor dem Anblick seines tot geglaubten Vaters fürchtete. Womöglich war es eine Mischung aus beidem.
„Aidan?“ Kimberly schnippte vor seinem Gesicht herum und schreckte ihn auf. „Hast du gehört, was ich gesagt habe?“
„Ähm … nein“, stammelte er.
„Wir zwei warten hier, und Ryan geht mit Gillean und Duncan deinen Vater holen“, wiederholte sie und führte ihn ein paar Meter von dem unterirdischen See fort zu einem Felsen, wo sie sich hinsetzten. Die drei jungen Männer schritten, mit den Fackeln und den Taschenlampen bewaffnet, vorsichtig zur Zelle von Lawren McGrath, jeder mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. Was würde sie dort erwarten? Was hatte Hinthrone ihm angetan? Lebte das Familienoberhaupt der Familie McGrath überhaupt noch?
Duncan schloss die Zellentür auf und Gillean trat als Erster ein. Ryan folgte nur zögerlich. Er konnte es nicht mehr verleugnen, dass Aidans Angst hatte sich auf ihn übertragen hatte . Es dauerte einige Momente, bis sie auf dem dreckigen, feuchten Stroh einen abgemagerten Schatten entdeckten, der sich gegen die Felswand presste und schützend die Hände vor die Augen hielt.
Überrascht blieb Ryan stehen und starrte mit offenem Mund auf den Gefangenen, der kaum noch Ähnlichkeit mit dem Lawren McGrath besaß, den er kannte. Dieser Mann stand bereits mit einem Bein im Grab. Er trug nichts weiter als eine alte zerrissene Hose. Auf dem nackten Oberkörper konnte Ryan die Rippen zählen, der wie die Arme und das Gesicht mit Brandnarben und Peitschenstriemen übersät war. Das einst blonde Haar hing in vereinzelten, verfilzten Büscheln vom Kopf, und Ryan empfand nur noch aufrichtiges Mitleid mit der armen Gestalt. Beim Blick auf die verkrüppelten Füße schnappte er entsetzt nach Luft. Sie waren offensichtlich mehrmals gebrochen worden und wuchsen nun schief und krumm wieder zusammen, niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie zu schienen oder zu verbinden. Die Knöchel und Gelenke waren geschwollen und wahrscheinlich für den Rest seines Lebens deformiert. Was hatte Hinthrone nur getan?
„Ryan? Ryan Tavish? Bist du es wirklich?“, flüsterte Lawren fast tonlos, als er die Hände langsam sinken ließ und den jungen Mann im dämmrigen Licht mit zusammengekniffenen Augen musterte.
„Lawren McGrath“, antwortete Ryan schlicht, denn er hatte keine Ahnung, was er sonst sagen sollte. Er stand einfach da und stierte auf den Schatten des Menschen, der vor knapp einem Jahr ein angesehenes Ordensmitglied gewesen war.
„Hier, trinken Sie.“ Gillean hatte sich neben ihm hingekniet und hielt ihm eine mitgebrachte Wasserflasche aus McBrights Büro an die trockenen Lippen. Auch ihm war deutlich der Schock anzusehen, denn dieses Gespenst war der Vater seines besten Freundes. „Wir bringen Sie hier raus.“
Während Gillean ihm beim Trinken half, befreite Duncan ihn von den eisernen Fesseln. Ryan schaute zu, wie Lawren gierig die Flasche leerte und fragte sich, wie sie ihn heil von der Insel bekommen sollten und vor allem: Wie würde Aidan auf den körperlichen Zustand seines Vaters reagieren? Aidan hatte ihn in der Vergangenheit vielleicht für sein emotionsloses Verhalten ihm Gegenüber verachtet, aber Lawren war immer noch sein
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