Strafzeit
Hirschbein, eine Mittfünfzigerin mit Dutt und Rüschenbluse, um deren Kragen eine Lesebrille baumelte, führte Claudia Mielke herein.
»Möchten Sie einen Kaffee oder Tee, Frau Mielke?«, erkundigte sie sich höflich.
»Lieber einen Schnaps«, entgegnete Claudia Mielke.
Die Sekretärin schaute irritiert und wusste nicht, was sie sagen sollte, doch der Chef kam ihr zuvor: »Guten Tag, Frau Mielke. Schön, dass Sie endlich gekommen sind. Schnaps haben wir leider nicht. Wir sind ja keine Kneipe.«
»Dann nur ein Glas Wasser«, erwiderte Claudia Mielke etwas schnippisch.
»Und für mich einen Pott Kaffee«, schob Müller nach. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich die Befragung auf Band aufzeichne?«
Frau Mielke hatte nichts dagegen.
Müller holte ein mittelgroßes Tonbandgerät, Baujahr 1978, aus der quietschenden Schublade und stellte es auf die grüne Tischvorlage. Eine große schwarze Unterschriftenmappe, die ihm Frau Hirschbein morgens hingelegt hatte, schob er beiseite.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Kommissar Winterhalter stürmte herein. Vermutlich, weil Sonntag war, hatte er die Kniebund- durch eine Stoffhose ersetzt. In der Hand hielt er mehrere Plastiktüten, in denen Claudia Mielke Wurst und irgendwelche Gläser unbekannten Inhalts sah.
Sie wunderte sich.
»So, die Kollege sind jetzt älle bedient«, sagte er zufrieden. »Sie hän doch au scho, Kollege Müller, oder?«
Sein Bauchladen mit Selbstgeschlachtetem vom Linacher Bauernhof lief prächtig. Nur schade, dass man den Polizeikunden davon nichts anbieten konnte. Schließlich lief das hier alles unter der Hand.
Also praktisch steuerfrei.
»Des isch doch nur e Grauzone«, pflegte Winterhalter seine deshalb besorgte Ehefrau zu beschwichtigen. »Immerhin verkauf ich jo nur an Staatsbedienschtete. Zeuge, Verdächtige und Untersuchungsgefangene bedienet mir jo nit.«
Frau Mielke machte ohnehin nicht den Eindruck, als hätte sie gerade gesteigerten Appetit auf ein Schweinskotelett oder Schinkenwurst aus der Dose. Und der Gatte brauchte derlei ja nicht mehr …
»Bin scho do«, sagte Winterhalter also, ließ die Tüten in seinem Schrank verschwinden, wusch sich die Hände und setzte sich an seinen Schreibtisch, um Frau Mielke zu mustern.
Sie hatte ganz offensichtlich wenig geschlafen. Für die Ehefrau eines Ermordeten kein Wunder.
Winterhalter mochte zwar optisch auf ein gröberes Kaliber hindeuten, aber er konnte mitunter durchaus Einfühlungsvermögen beweisen. Und: Er hatte relativ klare Vorstellungen von Recht und Unrecht. Auf dem Bauernhof wie in der Polizeidirektion.
Angehörige von Opfern verdienten zunächst einmal Mitleid. Bei Frau Mielke konnte sich das seinige allerdings deshalb nicht voll entfalten, weil ihm irgendetwas an ihrem Gesichtsausdruck nicht gefiel.
Winterhalter las darin mehr als Trauer und Ratlosigkeit. Ob sie ihnen etwas verschwieg?
»Wer d’Tier kennt, kennt au d’Mensche«, lautete eine von Winterhalters Lebensweisheiten. Und die Tiere kannte kaum jemand so gut wie er.
Er stellte einen braunen Pappbecher, den er vom Kaffeeautomaten im Flur hatte, auf den Tisch. Jetzt konnte die Vernehmung beginnen.
»Nun, Frau Mielke«, setzte Müller in leicht aggressivem Tonfall an. »Machen wir dort weiter, wo wir vor zwei Tagen stehen geblieben waren. Sie hatten also Besuch von einer Freundin, nicht wahr?«
»Ja. Ingrid war bei mir zum Abendessen. Ingrid aus Bad Dürrheim. Sie können sie gerne anrufen und fragen.«
»I dät diese Ingrid sogar gern emol persönlich kennelerne«, sagte Winterhalter. »Mir wisset jo dank Ihne scho, dass die Ihne rote Rose g’schenkt hät. Und jetzt hän mir au no rauskriegt, dass Ihre Freundin vermutlich Schuhgröße vierundvierzig hät …« Er lehnte sich mit verschränkten Armen an den Heizkörper und zog seinen Rollkragenpulli noch weiter hoch ins Gesicht. »Des muss e ganz b’sonderes Weibsbild sei … Des mein i übrigens gar net negativ …«
Claudia Mielke wurde nervös. »Wie … Wieso das denn?«
»Mein Kollege ist Experte auf dem Gebiet der Spurensuche«, erläuterte Müller. »Er hatte am Freitag Kriminaltechnik-Bereitschaftsdienst und hat sich erlaubt, nach unserem Besuch einen Blick in Ihren verschneiten Garten zu werfen. Und demnach hat sich relativ kurz vor unserem Eintreffen jemand ziemlich überstürzt durch die Verandatür davongemacht – und wir fragen uns, warum?«
Müllers Stimme klang nun fast sanft.
»Ihr Mann wird doch net uf ’em Weg zum
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