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Straight White Male: Roman (German Edition)

Straight White Male: Roman (German Edition)

Titel: Straight White Male: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Niven
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deinen Tränen freien Lauf.«
    Kennedy klammerte sich weinend an seine Mutter. Die Schuldgefühle – o Gott, diese unsäglichen Schuldgefühle, deren Gewicht tonnenschwer auf seiner Brust lag. Was er dieser Frau, die ihn geboren hatte, alles angetan hatte. Die Anrufe, die er nicht erwidert hatte. Die Briefe, auf die er nicht geantwortet hatte. Die Besuche, die er erst abgesagt und dann so kurz wie möglich gehalten hatte. Weil er doch so verdammt beschäftigt war. Beschäftigt, beschäftigt, beschäftigt. All die Stunden, die er nicht mit ihr verbracht hatte. Die Art, wie er sich darüber lustig gemacht hatte, wie schlicht ihre Überzeugungen und ihre Ausdrucksweise waren. Damals, als er alt genug gewesen war zu glauben, er wüsste es besser. Du hast dir für mich gewünscht, dass ich all das lernen kann, was du nie lernen konntest. Und ich habe die Gelegenheit missbraucht, so viel Abstand wie möglich zwischen uns zu bringen, bin weggelaufen, sobald ich konnte, und habe niemals zurückgeblickt: Glasgow, London, Los Angeles. Weiter, immer weiter weg. Du hast mir die Überzeugung gegeben, ich könne tun, was immer ich tun will. Und ich tat all das und noch viel mehr. Ich tat alles, was ich wollte – und darüber hinaus auch noch alles, was ich nicht wollte. Können wir die Uhr nicht einfach zurückdrehen, bloß um ein paar Minuten? Ich würde mit dir einen kleinen Ausflug ans Meer machen. Dich zum Essen einladen. Auf ein gemeinsames Wochenende. Wie damals, als wir an deinem Geburtstag nach Dublin gefahren sind und ich dich auf eine Kutschfahrt um St. Stephen’s Green mitgenommen habe, wie du sie immer mal machen wolltest. Wie du geschnurrt hast, als dir der Kellner im Clarence das Brot mit der Zange gereicht hat. Ich konnte gar nicht anders, als über deine Unschuld zu lachen. Ich war dein Augapfel, dein Erstgeborener, und ich hätte viel mehr für dich da sein sollen. Aber jetzt ist alles vorbei. Und nein, man kann die Uhr nicht zurückstellen, nicht mal um eine Sekunde. Ich war alles für dich, und ich habe dir den Rücken zugewandt, so schnell ich nur konnte. Es tut mir leid, es tut mir so leid. Meine Liebe für dich war fast so groß wie die, die du mir für mich selbst mitgegeben hast. Und die hat sich gewaschen. Wie hast du das nur hingekriegt?
    Armer, selbstsüchtiger Kennedy, treuloser Sohn. Armer, armer Kennedy.
    »Wein dich nur richtig aus«, sagte seine Mum, streichelte ihm den Kopf und sog den Duft mit jenem Glücksgefühl ein, das nur eine Mutter empfinden kann, die zum letzten Mal am Haar ihres Sohnes riecht.

sechsundvierzig
    Das Weinen wird deutlich unterschätzt, dachte Kennedy ein paar Stunden später, butterte sein zweites Brötchen und belegte es mit einer Scheibe geräuchertem Lachs. Tat das gut.
    Er hatte einen Mordshunger. Es fühlte sich an, als hätte er zehn Stunden geschlafen und drei Orgasmen gehabt. Er winkte einen Kellner herbei. »Entschuldigung, Maître, könnten wir bitte auch noch eine Portion Zuckermais haben?«
    »›Maître‹?«, fragte Patrick.
    »Sorry. Scheiß Hollywood.«
    Sie hatten sich von ihrer Mutter verabschiedet. Kennedy hatte versprochen, nächste Woche wiederzukommen, was nicht nur ein Lippenbekenntnis war, und nun nahmen sie einen späten Mittagsimbiss im Shanahan’s am St. Stephen’s Green ein. An einem großen Tisch, direkt vor dem Aussichtsfenster des großen georgianischen Speisesaals mit Blick auf den Park. Der sattblaue Nachmittagshimmel schien direkt gegen das Glas zu drücken, färbte es wie die Tusche den Tank eines Füllfederhalters. Seine Mutter hatte noch andere Dinge zu ihm gesagt, bevor sein Bruder zurück ins Zimmer gekommen war und sie das Krankenhaus verlassen hatten. Endgültige Dinge.
    »Fünfzig Euro für ein Steak?«, hatte Patrick gejapst, um dann die Speisekarte verzweifelt nach etwas Günstigerem zu durchsuchen. Kennedy hatte sich durchgesetzt und für beide jeweils ein dreihundertfünfzig Gramm schweres Filet Mignon bestellt. Eine exzellente Flasche Burgunder – ein 2001er Chassagne-Montrachet – stand vor ihnen auf dem Tisch, die Hälfte ihres Inhalts rauschte bereits durch Kennedys Blutkreislauf. Patricks Glas war noch genauso voll – oder besser gesagt halbleer – wie nach dem Einschenken.
    »Patrick, du weißt einfach nicht, wie man ein gutes Mittagessen genießt«, sagte Kennedy.
    »Ich esse nie zu Mittag.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich. Esse. Nie. Zu. Mittag.«
    »O Gott.«
    »Spielt auch keine Rolle. Denn das hier ist kein

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