Straight White Male: Roman (German Edition)
mitnehmen.«
»Glaubst du denn, mir macht das gar nichts aus?«
»Du kannst das wegstecken, Kennedy! Du kannst das kleine Notizbuch damit füttern, das da in deiner Tasche steckt.«
»Mum! Ich …«
»Jetzt hör mir mal zu.« Sie reckte sich nach seiner Hand. »Du hast viele großartige Qualitäten. Aber dich um andere zu kümmern, gehört einfach nicht dazu. Das war immer schon Patricks Sache.«
»Ich hab neulich an Gerry gedacht. An Kilkee. Unsere Sommerferien dort mit dem Wohnwagen.«
»Was für eine unbeschwerte Zeit«, sagte sie.
»Mum, erinnerst du dich noch? Einmal war Granny betrunken. Es gab einen Streit wegen irgendwas, was Gerry angestellt hatte. Sie war ungezogen gewesen. Und Granny hat etwas zu uns gesagt, zu mir und zu ihr, wir waren im Schlafzimmer. Haben auf dem Bett gespielt. Sie hat Gerry angebrüllt. Ich kann mich einfach nicht mehr genau erinnern …«
Seine Mutter schloss die Augen und atmete tief ein. »Sie hat gesagt, du wärst ›ein guter Junge‹, aber Gerry wäre ein ›mieses kleines Dreckstück‹.« Genau das war es. Gerry war keine fünf Jahre alt gewesen und hatte so etwas hören müssen. »Die Mutter deines Vaters konnte sich in einen boshaften alten Drachen verwandeln, wenn sie etwas getrunken hatte.«
»Glaubst du, ein Teil von Gerry hat sich damals gedacht: ›Ich werd’s euch allen zeigen. Ihr werdet noch sehen, was für ein mieses Dreckstück ich wirklich bin …‹ ?«
Eine ganze Weile sagte seine Mutter kein Wort. Sie starrte nur traurig in die Ferne, als würde sie in den Gewehrlauf der Vergangenheit blicken. »Es vergeht kein einziger Tag, an dem ich mich nicht frage, was meiner kleinen Geraldine zugestoßen sein muss, um sie zu dem zu machen, was sie war. Nicht ein Tag. Ich dachte, ich hätte euch alle gleich erzogen. Aber irgendetwas … irgendwas muss geschehen sein. Ich habe sie im Stich gelassen. Sie hatte einfach … so viel Wut in sich. ›Ständig auf Krawall gebürstet‹, hat dein Vater immer gesagt. Ich habe sie im Stich gelassen. Patrick auch. Ich habe sie beide im Stich gelassen …«
»Warum?«
Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Weil ich dich zu sehr geliebt habe, mein Sohn.«
»Mum, sag so was nicht.«
»Schhh. Ich habe nicht mehr lange zu leben. Lass mich sagen, was ich sagen will. Mit dir, Kennedy, das war … in der Minute, in der sie dich in meine Arme legten, habe ich dir in die Augen gesehen, und ich hatte das Gefühl, wir würden uns bereits kennen. Als hätten wir uns schon vorher gekannt. Ich kann es nicht erklären. Es war so merkwürdig. Ich konnte dein ganzes Leben vor dir liegen sehen, und ich wusste, du würdest etwas Besonderes schaffen, etwas Erstaunliches. Die Art, wie du geweint hast, als du noch ganz klein warst. Du hast geschrien . Als wäre die Welt einfach nicht nach deinen Vorstellungen gestrickt, und du würdest alles niederbrüllen, bis dieser Fehler behoben wäre.«
Die Welt war nicht nach deinen Vorstellungen gestrickt.
Das schien Kennedy eine ziemlich gute Definition eines Schriftstellers zu sein. Jemand war ihm zuvorgekommen und hatte die Regeln festgelegt. Und diese Regeln waren inakzeptabel. Drauf geschissen. Chaos und Wahnsinn ließen sich zu einer Erzählung formen. Und wenn aus dem wackeligen Kartenhaus ein »wunderschönes Schloss aus Glas und Stahl« wurde, wenn für kurze Zeit, zwischen den Buchdeckeln, von Seite eins bis wo auch immer, das »Missverhältnis zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein« ausgeglichen wurde, konnte man die Welt nach seiner Pfeife tanzen lassen. Manchmal fühlte es sich an, als hätte er genau das die letzten zwanzig Jahre getan: alles niedergebrüllt. Geschrien. Aber er konnte nichts dagegen ausrichten. Die Kunst mochte vielleicht auf sein Geschrei reagieren, aber das Leben zuckte bloß mit den Achseln und ging weiter.
»Die Welt war auch nicht nach Gerrys Vorstellungen geschaffen.« Kennedy sprach die Worte unter Tränen. Er schlug die Hände vors Gesicht. Sein Gesicht war tränennass, als seine Mum ihn an sich heranzog und seinen Kopf an ihre Brust drückte, wie sie es in seiner Kindheit so oft getan hatte.
»Aber sie konnte nicht dagegen anschreiben, mein Sohn. Sie wollte das Problem bloß auslöschen.«
Drei Pfund und vierundvierzig Pence.
Bitte hier unterschreiben.
Der verkrustete Speichel auf ihrem Pullover.
Konnte sie von ihrem Fenster aus die Möwen sehen?
»Winke-winke, Stinke-Kenny, winke-winke.«
Ein mieses kleines Dreckstück.
»Ist ja gut, mein Sohn. Lass
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