Straight White Male: Roman (German Edition)
eine Menge erleben und erdulden musste, um drei- oder vierhundert Seiten Fiktion zu schreiben.
fünfundvierzig
»Nun geh schon, Patrick«, sagte seine Mutter. »Ich habe dein Gesicht jetzt jeden Tag gesehen. Hol dir einen Kaffee und gib mir etwas Zeit, um mit deinem Bruder zu reden.«
»In Ordnung, Mum.« Patrick stand auf und nahm seinen Man tel von der Stuhllehne. »Möchtest du irgendwas vom Kiosk?«
»Nein danke. Ich habe alles, was ich brauche. Oh, vielleicht ein paar von diesen Süßigkeiten, die ich so gerne mag. Du weißt schon, welche.«
Sie blickten ihm nach.
»Er ist ein guter Kerl«, sagte Kennedy.
»O ja, das ist er. Patrick würde alles für einen tun. Im Gegensatz zu manch anderen.« Ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen. Kennedy nickte und nahm die Kritik hin. »Komm schon, zieh deinen Stuhl hierher, damit ich nicht so brüllen muss.«
Er rückte zum Kopfende auf. Aus der Nähe betrachtet war ihr Gesicht weiß und furchig. Wie die Oberfläche des Mondes. Ihr Haar sah aus wie Asche. Sie färbte es schon seit Jahren nicht mehr. In ihrer Jugend hatte es fast dieselbe Farbe wie seins gehabt: ein dichter, widerspenstiger, schwarzer Mopp. Aber ihre Augen glänzten. Möglicherweise aufgrund der Medikamente, wegen des Morphiums. Oder war es ein metaphysisches Phänomen? Sterbende Sterne, die im Moment des Verlöschens am hellsten strahlten?
Die Venen in den eingefallenen Schläfen seiner Mutter waren so deutlich zu sehen, als verliefen sie über der Haut. Kennedy musste an das Lloyd’s Building in London denken.
Oh, ihr quälenden Gedanken. Wann seid ihr damit fertig, mit dieser Schriftstellermasche? Wann lasst ihr mich endlich zufrieden?
»Weißt du, was mir gefallen würde?«, sagte sie. »Jetzt, wo ich den Zigarettenrauch an dir rieche …«
»Meine Güte, ist das jetzt die Totenbettszene, in der du mir das Versprechen abringst, mit dem Rauchen aufzuhören?«
»Pfff! Als wenn ich dich zu irgendetwas überreden könnte. Seit du fünf bist, hast du getan, was du wolltest. Nein, um ehrlich zu sein, hätte ich große Lust, selbst eine zu rauchen.«
»Du hast seit zwanzig Jahren nicht mehr geraucht.«
»Und du glaubst wohl, du weißt alles, was ich so getrieben habe …«
Kennedy lachte, blickte sich auf der Station um, betrachtete die herumschwirrenden Krankenschwestern und den Arzt, der das Diagramm am Fußende eines Krankenbetts studierte. Ein Hausmeister stand auf einer Klappleiter und hängte Weihnachtsdekoration auf: silbernes Lametta, grüne Plastiktannenzweige und rote Krepppapierstreifen.
»Ich glaube, das könnte angesichts der Umstände etwas kompliziert werden.«
»Ach, was macht das jetzt schon noch für einen Unterschied?«
Er sah sie an und wollte etwas erwidern.
»Schluss damit«, sagte seine Mutter, »lass uns über dich reden. Ich habe gehört, du hast dir wieder Ärger eingebrockt.«
»Ähm …«
»Glaub bloß nicht, ich würde hier drin nichts mitkriegen. In der Zeitung stand, du hättest mit dieser kleinen Schauspielerin angebändelt? Dich im Flugzeug geprügelt? Du und dein elendes Temperament. Ganz wie dein Vater, Gott, hab ihn selig.«
Und wie Gerry, dachte Kennedy.
Er blickte zu dem schlichten Weidenkreuz auf, das sie neben ihrem Bett an die Wand gehängt hatte. Betrachtete die hölzernen Perlen des Rosenkranzes neben der Wasserkaraffe auf ihrem Nachttisch. Seine Mutter glaubte daran, ihren Gatten nun bald wiederzusehen. Ihn in dieser riesigen Parklandschaft zu finden, in der sich alle Seelen tummelten, die jemals gelebt und Buße getan hatten. Würde Geraldine auch dort sein? Selbstmörder – auf ewig aus dem himmlischen Königreich verbannt. Würde das Herz seiner Mutter die Grenzen ihres Glaubens überwinden können? Und wäre Gerry an diesem neuen Ort auf wundersame Art verändert? Weniger gezeichnet? Im Frieden mit sich selbst?
Sie fing seinen Blick auf und durchschaute irgendwie seine Gedanken. »Und fang mir jetzt bloß nicht vom Herrgott an, hast du mich verstanden? Sonst lass ich dich an deinen Ohren hier rausschleifen. Ich weiß ganz genau, was du von dem Thema hältst.«
»Das Zeug in den Zeitungen … das ist alles ein Haufen Blödsinn, Mum.«
»Mir machst du nichts vor, mein Junge.«
»Na ja, größtenteils zumindest.«
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Die Mimik seiner Mutter verriet ihm, dass sie vorhatte, das Thema zu wechseln. Dass es nun ernster würde. »Du musst jetzt für deinen Bruder da sein. Das wird ihn alles sehr
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