Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Straight White Male: Roman (German Edition)

Straight White Male: Roman (German Edition)

Titel: Straight White Male: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Niven
Vom Netzwerk:
auf ihre Karte zu laden, und er hatte sich gefragt, ob sie wohl komplett angezogen, eingewickelt in einen dicken Pullover und mehrere Fleecejacken im Bett gelegen hatte. Oder vor dem laufenden Fernseher auf dem Sofa. Obwohl, das wäre ja ohne Strom gar nicht möglich gewesen. Beim Anblick einer Reihe von Kerzenstummeln vor dem Kamin hatte er sich ausgemalt, wie sie im Kerzenlicht auf dem Sofa lag und las – in eine Bettdecke gewickelt, mit fingerlosen Handschuhen –, während ihr Atem vor ihr in der Luft kondensierte. Vielleicht hatte sie sogar eines seiner Bücher gelesen.
    Wirklich herzzerreißend war jedoch das gewesen, was auf dem kleinen Esstisch im Wohnzimmer gelegen hatte. Eine traurige Flut brauner Umschläge teuflischen Inhalts: »Sollten Sie nicht zahlen«, »Letzte Mahnung«, »Bitte treten Sie sofort mit uns in Kontakt«. Mietrückstände, gesperrte Kreditkarten, ein überzogenes Konto, Gas- und Stromrechnungen. Kennedy hatte sich gefragt, wie viel von dem, was er in dieser Wohnung sah, wohl exemplarisch für das Bild eines Selbstmords war. Die herumliegende Post gehörte sicher dazu. Wenn man sie in eine Szene des Drehbuchs einbauen würde, wäre mehr gar nicht nötig. Kein Dialog, bloß ein langsamer Schwenk über diese Umschläge, ein flüchtiger Blick auf ihren Inhalt, bevor die Kamera schließlich auf die Person zoomte, die gerade auf die Klappleiter stieg oder sich die Pistole unters Kinn hielt.
    Es gab nicht den geringsten Lichtblick in der Post seiner Schwester, keine einzige positive Nachricht. Keine Einladungen zu Premieren und Preisverleihungen. Keine blassgrünen Writer’s-Guild-Umschläge mit fünf- und sechsstelligen Tantiemenschecks. Keine in Luftpolsterfolie verpackten Ansichtsexemplare von Büchern. Die Briefe waren allesamt reine Folterwerkzeuge, weiter nichts. In der Wohnung ließen sich auch Hinweise auf andere, weniger offizielle Verbindlichkeiten finden. Da waren die Dellen und das Loch in der Wohnungstür, die zweifelsfrei von einem Stiefel stammten. Die Messer in der Kommode neben ihrem Bett. Kennedy erinnerte sich, dass ihm all das auch schon in ihrer Bude in Limerick aufgefallen war. Gerry und ihr unglaubliches Talent, Chaos und Gewalt anzuziehen.
    Er war in ihr Schlafzimmer gegangen und hatte sich vors Bett gesetzt. Sein Atem bildete kleine Wölkchen, als er zur Decke hinaufblickte und sich fragte, wie viele Nächte sie wohl hier gelegen und im Kopf ihre Schulden summiert hatte. Die offenen Rechnungen. Das Geld, das sie ihrer Mutter oder Patrick abgeschwatzt hatte. Es war jeden Monat das gleiche, irrsinnige Theater gewesen. All die Lügen und Anstrengungen, die dafür nötig waren. Die verdrehten Pläne und Deals: allesamt Schnapsideen und Strohfeuer. Kennedy hatte auf dem Boden gesessen und alles zusammengerechnet.
    Sie hatte sich wegen zwölftausend Pfund das Leben genommen.
    Er hätte ihr einfach einen Scheck über diese Summe ausstellen können. Er hatte sich all seine luxuriösen Abendessen, die Taxifahrten, Urlaubsreisen, die horrenden Kneipenrechnungen, die Mitgliedsbeiträge für exklusive Clubs, die Zigarren, die im Suff getätigten eBay-Käufe, die Musik- und Filmdownloads ins Gedächtnis gerufen. Dreißig Pfund hier, fünfzig Pfund dort, ohne überhaupt darüber nachzudenken. Die Lokalrunden sündhaft teurer Cocktails, die er Menschen spendiert hatte, die ihm nahezu fremd waren. Die Champagnerflaschen, die er in Bars und Restaurants aus den fadenscheinigsten aller möglichen Anlässe bestellt hatte: weil es Freitag war, wegen der überraschend hohen Verkaufszahlen seiner Bücher in der Türkei. Wegen … ach, wen interessierte das schon? Einfach, weil er es konnte. Einen Augenblick lang war er überzeugt gewesen, er würde wahnsinnig werden. Er fühlte sich wie Schindler, als der am Ende weinend über den Hof seiner Fabrik gestolpert war und sich den Kopf zermartert hatte: »Dieser Ring, fünf Leben. Jenes Auto, …«
    Kennedy hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, und endlich waren die Tränen gekommen. »O Gerry, du blöde Kuh Nuss. Warum hast du nicht einfach …« Er hatte sich auf dem billigen Laminatboden in der Mietwohnung seiner Schwester zusammengerollt und geheult.
    Die Zeit war noch nicht reif. Es würde erst durch ihn hindurch destilliert werden müssen, bevor er darüber würde schreiben können. Kennedy wusste, dass man – in etwa so, wie man drei Tonnen Rosenblätter benötigte, um einen Liter Rosenöl zu gewinnen – eine Menge Schmerz ertragen,

Weitere Kostenlose Bücher