Straight White Male: Roman (German Edition)
ja?«
Der Kellner erschien, als Patrick gegangen war. »Würden Sie gerne noch die Dessertkarte sehen, mein Herr?«
»Wissen Sie was? Bringen Sie mir doch bitte einfach einen großen Armagnac.«
»Selbstverständlich.«
Kennedy blickte aus dem Fenster. Draußen gingen die Straßenlaternen an, und der Park tauchte allmählich in die Dämmerung ein. St. Stephen’s Green: seiner Meinung nach die mit Abstand kostbarste Immobilie in der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine über zwanzig Hektar große Parklandschaft mitten in der Stadt, der jeder zeitgenössische Romanautor etwas schuldete, ohne davon zu wissen.
Genau hier, auf der anderen Straßenseite, war James Joyce am Abend des 22. Juni 1904 in eine »Rauferei« geraten. Ein Handgemenge. Eine lautstarke Auseinandersetzung. Der alte Schwerenöter – obwohl damals gerade mal zweiundzwanzig Jahre jung und ein ziemlich hübscher Kerl – hatte zwar bereits seiner späteren Lebensgefährtin Nora nachgestellt, die Beziehung war aber noch nicht offiziell gewesen. Also versuchte er, mit einem Mädchen anzubandeln. Ohne allerdings zu ahnen, dass ihr Freund um sie herumscharwenzelte. Dieser Freund stellte sich als durchaus kräftig heraus, und James bekam seine verdiente Strafe: ein blaues Auge, Handgelenk und Knöchel verstaucht, Platzwunden an Hand und Kinn. Ein älterer jüdischer Herr namens Albert H. Hunter eilte Joyce zu Hilfe und brachte ihn nach Hause. Unterwegs erfuhr Joyce, dass der Mann eine untreue Ehefrau hatte.
Hunter wurde zu Leopold Bloom.
Kennedy fragte sich häufig, wie beschämt sein Landsmann gewesen sein musste. Erst in aller Öffentlichkeit verprügelt zu werden, um dann auch noch Beistand von einem dahergelaufenen älteren Herrn zu erhalten.
Er blickte wieder auf den Tisch. Der Kellner hatte den Armagnac lautlos vor ihm abgestellt. Kennedy hielt das Glas an sein Gesicht, bis die Dämpfe seine Augen tränen ließen.
Aus diesem Raufhandel war beinahe fünfzehn Jahre später – eine Menge Zeit, um diese Erfahrung zu destillieren, so viele Liter Rosenöl – Ulysses entstanden, ein siebenhundert Seiten starker Quantensprung für das Genre des modernen Romans. Selbst heute mühten sich Schriftsteller noch immer damit ab, diesen Vorsprung wieder wettzumachen.
Regelrecht aufgerissen.
Ich habe dich zu sehr geliebt. Als seine Mutter ihm dies im Krankenhaus ein zweites Mal zugeflüstert hatte, waren auch ihr die Tränen gekommen. Was hatte dieses Übermaß an Liebe aus ihm gemacht?
Eines wusste er: Er wollte nicht zurück nach London fliegen und die ganze Strecke nach Warwickshire rauffahren, nur um heute Nacht ganz allein in dem großen, leeren Haus zu schlafen. Er holte sein Handy hervor und rief Paige an. Niemand ging ran. Bloß die Mailbox. »He, ich bin’s, Kennedy. Ich hoffe, dir geht’s gut. Ich komme heute Abend aus Dublin zurück. Bin wahrscheinlich so gegen elf zu Hause. Vielleicht hast du ja Lust, vorbeizukommen … auf einen kleinen Mitternachtssnack oder so. Ruf mich zurück.«
Er legte auf und verlangte die Rechnung. Ein paar Minuten später, als er gerade seine PIN-Nummer in das Kartenlesegerät eingab, vibrierte sein Handy. Eine SMS: Sorry, bin bei meinen Eltern. Sehe dich am Dienstag im Seminar. P x.
Kennedy seufzte und sah zum Fenster hinaus.
Genau dort, im St. Stephen’s Green, vor einhundertundneun Jahren.
siebenundvierzig
Kennedy hatte den Wagen am Flughafen in der Kurzparkerzone stehen lassen, was pro Tag mehr kostete als so manches Hotel. Obwohl die Drinks, die er zu Mittag hatte, ihn ein wenig schläfrig machten, fühlte er sich gerade noch nüchtern genug, um Auto zu fahren. Er befand sich noch auf der M25, die weiträumig um London herumführte, als er vor sich die Ausfahrt Nummer 16 nach Iver Heath ausgeschildert sah.
Pinewood.
Spenglers Domizil.
Komm doch mal auf einen Drink vorbei.
Urplötzlich war die Aussicht, in fünfzehn Minuten die Hausbar des Produzenten plündern zu können, deutlich verlockender, als anderthalb Stunden lang zu seinem leeren Haus über die M40 durch die Nacht zu gondeln. Er blickte auf die Uhr: erst kurz nach neun. Warum nicht?
Kennedy betätigte den Blinker und steuerte den schweren Aston Martin auf die linke Spur, während er mit einer Hand Spenglers Adresse aus seinen E-Mails heraussuchte und sie ins Navigationsgerät eingab.
Kaum zwanzig Minuten später fuhr er die Zufahrt hinauf. Das Haus war in fast jeder Beziehung das britische Äquivalent zu Spenglers Anwesen in
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