Straight White Male: Roman (German Edition)
Wohnzimmertür. In allen Zimmern hatte es nach Erbrochenem gerochen, Geraldines Gesicht schmückten zwei dicke Veilchen, und der kleine zwölfjährige Patrick war völlig traumatisiert gewesen. Kennedy erinnerte sich, dass danach zwischen seinem Dad und Geraldine zum ersten Mal die Fäuste geflogen waren, und an die schlimmen Worte, die dabei fielen. Worte, die Geraldine nach dem Tod ihres Vaters nie mehr loswurde. Und er erinnerte sich an das, was zwischen den beiden unausgesprochen geblieben war. Dinge, die Gerry nie mehr aus dem Kopf bekam. Ganz egal, wie viel sie kiffte, soff und sich in die Venen jagte.
Er erinnerte sich an das Geschenk, das seine Mutter ihm gegeben hatte, bevor seine Eltern ihn winkend vor dem schmutzig-braunen Sandstein-Mietshaus zurückließen: ein Geschirrtuch, bestickt mit Schmetterlingen und dem Aphorismus »Wenn die Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln, sind sie groß, gib ihnen Flügel« . Damals hatte er sich natürlich darüber lustig gemacht. Was war eigentlich aus dem Geschirrtuch geworden? Er hatte so eine vage Ahnung, es als improvisierten Wichslappen missbraucht zu haben, bis das steife Knäuel in einer weiteren Studentenbude in Hillhead irgendwann zwischen Matratze und Rahmen eines schmalen Bettes verschwunden war. Wie sehr er sich nun wünschte, dass er es noch hätte. Wieder etwas, das einmal ihm gehört und das er weggegeben hatte. Wie all die Dinge, die er über die Jahre seinen Romanfiguren mitgegeben hatte, um die Last der Reichtümer zu mindern, die er mit sich durchs Leben schleppte.
Am Abend bevor er endgültig die Namen jener zwanzig Studenten zu übergeben hatte, die er für würdig erachtete, in seine drei Seminargruppen aufgenommen zu werden, war ihm doch noch eine Lösung für das scheinbar unlösbare Problem eingefallen, das seine Twin Towers der Pein darstellten. Er hatte eine halbe Flasche Whisky getrunken, war ins Arbeitszimmer marschiert, hatte »Ihr habt es nicht anders gewollt!« gebrüllt und den Nordturm mit einem Handkantenschlag zum Einsturz gebracht. Während die Blätter noch zu Boden flatterten, kreischte er »Ihr Mistkerle!« und rammte seine Faust mitten in den südlichen Zwilling. Die beiden Türme hatten sich in der Luft zu sanft schwebendem, hübschem Konfetti vereinigt. Dann war er auf Zehenspitzen durch das Massaker gestakst und hatte in der Manier eines Feuerwehrmanns, der eine qualmende Ruine nach Überlebenden absucht, willkürlich zwanzig Manuskripte herausgepickt. Diese hatte er in zwei Stapel à sieben sowie einen à sechs Stück unterteilt und … Bingo: Da waren seine drei Seminargruppen. Wozu also die ganze Aufregung?
Kennedy wandte sich vom Fenster ab und den ersten sieben Kandidaten zu, die sich nun in ihren Stühlen um seinen Schreibtisch drängelten – offenbar sichtlich beeindruckt von der kostspieligen Einrichtung seines Büros, das dank des Blankoschecks, mit dem er Connie zu Heal’s geschickt hatte, wie das prächtig eingerichtete Wohnzimmer einer Londoner Stadtresidenz aussah. Teil zwei seines Plans war ursprünglich gewesen, zumindest die zwanzig von ihm ausgewählten Manuskripte auch tatsächlich zu lesen. Dummerweise hatte sich das erledigt, als er ausgerechnet an dem Abend, den er sich für diese Aufgabe freigehalten hatte, eine SMS von Nicky aus dem Falcon’s Rest erhielt. Die Worte »He Süßer, was läuft?« hatten eine Kettenreaktion ausgelöst, in deren Verlauf er einen Großteil seiner fürs Lesen reservierten Zeit in etwas investierte, was darin gipfelte, dass er und das australische Barmädchen um vier Uhr früh sternhagelvoll und am Ende ihrer Kräfte in einem verschwitzten Knoten auf dem Boden seines Wohnzimmers lagen.
Immerhin hatte er es geschafft, die Namen der zwanzig Studenten sowie die Titel ihrer Texte auf einem DIN-A4-Blatt zu notieren. Hinter die Titel hatte er – je nachdem, an welchem Format sich seine Schützlinge versucht hatten – in Klammern »Kurzgeschichte«, »Roman« oder »Drehbuch« geschrieben. Mithilfe dieses Spickzettels und eines kurzen Überfliegens des jeweiligen Textes, aus dem er seine Studenten zudem noch eine kurze Passage vortragen lassen wollte, war er zuversichtlich, über die Runden zu kommen.
»Also, äh, Tim, richtig?« Er deutete auf einen pickligen Studenten im Grundstudium. Einen schwitzenden Nerd, der fraglos nichts als Bücher und Onanieren im Kopf hatte und ganz links von ihm saß. »Warum fangen wir nicht mit Ihnen an? Erzählen Sie uns doch ein wenig von sich.
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