Strange Angels: Verraten: Roman (PAN) (German Edition)
Schultern. »Ich muss zur Waffenkammer, sonst brummen sie mir Nachsitzen auf.«
Wie, du willst dich nicht einmischen, es sei denn, ich werde zusammengeschlagen? Und seit wann kümmert dich Nachsitzen, verdammt? Die unausgesprochenen Worte stießen mir sauer auf. »Na gut«, sagte ich, ohne seinen Mantel loszulassen. Wahrscheinlich kreuzte Dylan sowieso jeden Moment auf. »Dann geh!«
»Du verstehst nicht, was …« Zu allem Überfluss beendete er den Satz nicht einmal. Er sah mich nur wütend an, als wäre ich das Problem. Die Glocke schlug wieder, drängend. Nun riss er sich von mir los und lief mit wehendem Mantel zur Tür.
Ließ mich allein in dem leeren Klassenraum. Meine Finger brannten, als hätte ich sie mir aufgeschürft. Das Medaillon meiner Mutter hing kalt und schwer unter meinen ganzen Stofflagen.
Die Glocke verstummte, und die merkwürdig statische Stille in der Schola unter Belagerung kroch mir in den Kopf.
Die Jungen hatten alle ihre Aufgaben, wenn es läutete. Wehrposten, Waffenausteilen unten in der Kapelle, Wachposten im Haus. Die ältesten Schüler und die Lehrer schwärmten aus und suchten das Gelände ab.
Das letzte Mal waren einige von ihnen ziemlich übel zugerichtet wiedergekommen. Blutend sogar. Von den Blutsaugern.
Ein paar Sekunden stand ich da, meine Hand wundgescheuert von Graves’ rauhem Baumwollmantel, der mir grob aus den Fingern gerissen worden war. Das hier machte den vierten Alarm. Irgendjemand kreuzte immer auf, um mich in mein Zimmer zu bringen.
Diesmal nicht. Eine Sekunde nach der anderen verging. Die Lampenröhren surrten, und die Spinnweben oben in den Deckenecken wedelten wie Seetang. Auch einige der Deckenplatten bröselten.
Dieser Bau fällt auseinander. Oh Mann!
Mir fiel auf, dass dies das erste Mal seit meiner Ankunft war, dass ich mich außerhalb meines Zimmers allein aufhielt. Ich zog den Kopf ein, zupfte meine Pulloverärmel herunter und stellte fest, dass ich tatsächlich darauf wartete, dass jemand kam und mir sagte, was ich tun sollte. Das Klappmesser fühlte sich bleischwer in meiner Gesäßtasche an, überdeckt von dem Pullover und Graves’ Flanellhemd.
Herzlichen Glückwunsch, Dru! Es gab sicher etwas anderes, das ich tun konnte, als hier herumzustehen. Irgendetwas. Seit Gran gestorben war, hatte ich als Dads rechte Hand fungiert, war von Stadt zu Stadt gezogen und hatte andere von unangenehmem Zeug befreit, das nachts ausflippte. Dämlich herumzustehen half gar nicht. Und auf jemanden zu warten, der zurückkam und mich in mein Zimmer verfrachtete, ebenso wenig.
Die Stille veränderte sich, denn alles Statische wich einer Atemlosigkeit. Ich blinzelte zweimal angestrengt und drehte mich um, was ich so schnell tat, dass mein Haar in hohem Bogen aufflog.
Auf der Rückenlehne des Sofas, auf dem ich eben noch gesessen hatte, hockte Grans Eule und plusterte ihre weißen Federn mit den Grauschattierungen an den Spitzen auf. Ihr schwarzer Schnabel sah teuflisch scharf aus. Die gelben Augen fixierten mich, und ich seufzte halb erleichtert, halb vor Schmerz.
Ah, Gott sei Dank! Wo hast du denn gesteckt?
Zum ersten Mal seit meiner Ankunft hier sah ich Grans Eule wieder … außerhalb meiner Träume. Das typische Schrillen in meinen Ohren setzte ein: ein hoher klarer Ton wie eine Glocke, die wieder und wieder geläutet wurde. Er füllte meinen Schädel aus wie Watte.
Die Eule drehte ihren Kopf und sah mich an, als wollte sie fragen: Was gibt’s, Chef? Ich blinzelte. Staubflocken hingen in der Luft, und die Uhr über der Tür blieb stehen. Sie tickte nicht einmal mehr.
Dies war der Raum zwischen Vorahnung und irgendeinem schrägen Ereignis – schräg oder ernstlich übel. Das zu beurteilen, war es noch zu früh.
Schhh. Die Eule stieg raschelnd auf. Sie war groß, beinahe zu groß für den Raum, drehte enge Kreise und segelte auf die Tür zu. Sie nahm ihre Flügel ein wenig herunter, bevor sie gegen den Rahmen stießen, drehte sich halb zur Seite wie ein Raumschiff im Film und verschwand in den Flur.
Mir war klar, dass ich ihr folgen musste.
Gran hatte mich immer ermahnt, meinen Gefühlen zu vertrauen, während Dad mir dauernd sagte, ich sollte ja nicht den Hinterwäldlerschwachsinn über meine Vernunft siegen lassen. Aber er hatte mich auch nie aufgehalten, wenn ich diesen Blick bekam – der ihm verriet, dass ich etwas sah, das er nicht wahrnehmen konnte.
Grans »sechster Sinn« war im Umkreis von Meilen berühmt gewesen, und ich sollte meinen
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