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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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zu sehen, sagte ich und bereute meinen Satz sofort; es wäre mir ziemlich schwergefallen, sie alle aufzuzählen.
    Glücklicherweise fragte mich keine der beiden nach diesen Sehenswürdigkeiten, und zehn Minuten später, als Bassam mit einem solchen Gähnen an der Reihe war, dass er sich fast den Kiefer ausrenkte, während ihn das Schaukeln von Elenas Brüsten noch immer so zu hypnotisieren schien, dass er die Augen geschlossen hielt, gab Judit das Zeichen zum Aufbruch. Ich drängte sie nicht, zu bleiben, ich stimmte sogar zu, es sei Zeit, ja, ich würde am nächsten Vormittag arbeiten. Ich erklärte, dass ich am Morgen einen Büchertisch vor einer Moschee unseres Stadtteils aufbauen würde, ich wiederholte zweimal den Namen der Moschee und den des Stadtteils, nach Bassams Methode, um sicherzugehen, dass sie es verstanden hatten. Kommt doch vorbei, wenn ihr in der Gegend seid, fügte ich der Deutlichkeit halber hinzu. Angesichts des gewaltigen touristischen Reizes unseres Vororts standen die Chancen nicht gerade gut, dass sie »in der Gegend« sein würden, und alles in allem war ich mir nicht sicher, ob ich wollte, dass sie meine Bücherstapel genauer in Augenschein nahmen, aber, verstehen Sie, es war schrecklich frustrierend, sie einfach gehen zu lassen, ohne ihnen etwas vorzuschlagen, selbst wenn es auf indirekte Weise war. Judit und Elena wohnten in einem kleinen Hotel in der Altstadt, wir begleiteten sie dorthin; ich hätte ihnen gerne die Geschichte von Tanger erzählt, von der Zitadelle, den Gassen, aber ich war absolut unfähig dazu.
    Es ist immer ein bisschen peinlich, sich zu verabschieden, besonders in einer stillen, menschenleeren Straße, neben den Mülleimern einer Pension, deren mattes Neonlicht, unter dem Hotelschild am Balkon angebracht, von Zeit zu Zeit die Fäden des feinen Regens elektrisierte, der nun wieder fiel. Es ist ein Augenblick zu viel, von dem man nicht weiß, ob er andauern soll oder ob es, im Gegenteil, nicht besser wäre, ihn so weit abzukürzen, dass es ihn gar nicht mehr gibt. Ihr werdet nass werden, sagte Judit. Danke für den Abend, hauchte ich. Bassam streckte Elena die Hand hin, ohne die Augen zu ihrem Gesicht zu heben; es war besser, jetzt auseinanderzugehen, uns erwarteten die schillernde Stadt und das »Haus der Verbreitung des koranischen Gedankenguts«; in den Lichtfetzen, die wie ein Stroboskop immer wieder Judits Gesicht beleuchteten, wurden ihre Augenbrauen, ihre Lippen und ihr Kinn starr. Bis bald vielleicht, sagte ich. Ilâ-l-liqâ’ , antwortete sie. Es waren die ersten arabischen Worte, die ich aus ihrem Mund hörte, Ilâ-l-liqâ’ , ihre Aussprache war so perfekt, so arabisch, dass ich, überrascht, unwillkürlich Ilâ-l-liqâ’ antwortete, dann machten wir uns auf den Nachhauseweg.

Ich weiß nicht, ob es der Regen war, der Bassam wach gemacht hatte, aber nachdem uns hundert Meter von den Mädchen trennten, fing er an wie ein Wasserfall zu reden und hörte nicht mehr auf. Mannomann, was für ein Abend, Alter, hast du das gesehen, irre, die sind verrückt nach uns, ich hätte darauf bestehen sollen, dass wir mein Ding mit der Arabischstunde durchziehen, sie wären sicher mitgekommen, hast du gesehen, wie sie mir ihre Brüste vorgeführt hat, trotzdem, unglaublich, ich habe gedacht, dein Ding mit Carmen und Ines wäre Schaumschlägerei, Mensch, haben wir Schwein gehabt. Mannomann.
    Am seltsamsten war, dass er weder frustriert noch enttäuscht darüber aussah, dass wir sie in ihrem Hotel abgeliefert hatten, er war einfach glücklich und schien sich nicht die Bohne um den Regen zu kümmern. Ich dagegen, halb durchnässt – und uns stand noch eine gute Dreiviertelstunde Fußmarsch bevor –, empfand eine entsetzliche Leere, eine Niedergeschlagenheit, als hätte das Schicksal, als es mich zu Judit führte, bevor es sie mir wieder nahm, meine Einsamkeit verzehnfacht. Auf dem Weg in unser Viertel kehrte die Erinnerung an Meryem, an ihre Zärtlichkeit und ihren Körper schmerzhaft zurück; das Auftauchen dieser Spanierin ließ mich wieder stärker fühlen, wie sehr sie mir fehlte, zeigte mir, wie ich glaubte, wo meine wahre Liebe lag; und je weiter dieser einzige körperliche Kontakt in die Ferne rückte – fast zwei Jahre war es her –, desto mehr meinte ich zu begreifen, wie viel sie mir bedeutete, denn Judits Gegenwart hatte mir, anstatt unverzüglich eine neue Lust in mir zu wecken, Einzelheiten (Düfte, Stoffe, Nässe) in Erinnerung zurückgerufen, die jetzt im

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