Straße der Diebe
kurzen Blick darauf, wenn sie in die Moschee hineingingen, und blieben länger davor stehen, wenn sie herauskamen; während des Gebets und der Predigt gab es außer ein paar Passanten keine Interessenten, aber in dieser Zeit durfte ich ohnedies nichts verkaufen, da Muslime während des Gebets keinen Handel treiben dürfen, wie Nouredine sagte.
Das Wetter war unberechenbar; ich hatte mir vorsichtshalber eine große Plastikplane besorgt, um die Bücher vor einem Regenschauer zu schützen, auch wenn es laut Wetterbericht nicht regnen sollte.
Es war wenig los auf dem Vorplatz, ein Jugendlicher sah mich mit großen Augen an, es war mein Bruder Yassine, der Tag fing ja gut an. Er trug eine Tasche mit Brot, fast zwei Jahre war es her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er merkte, dass ich ihn erkannt hatte, wandte den Kopf ab, zögerte, ging ein paar Schritte weiter und kehrte wieder um, ich sah ihm mit einem großen Lächeln entgegen, streckte zur Begrüßung die Hand über die Bücher, er schlug nicht ein, warf mir nur zu:
»Dass du dich nicht schämst, hier wieder aufzutauchen.«
Jetzt reichte es aber, dieses ganze Theater, weil ich nackt bei Meryem gewesen war.
»Was geht dich das an, kleiner Scheißer?«
Wegen der Kraftausdrücke drehten sich einige Gaffer um. Auch Cheikh Nouredine, der einige Meter entfernt stand.
Yassine war plötzlich wie ausgewechselt.
»Weißt du, bei all dem Unglück, das du über uns gebracht hast, fehlst du Mama sehr.«
Er sah mit einem Mal sehr gerührt aus.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Sag ihr, sie fehlt mir auch sehr.«
Wir konnten getrost darauf verzichten, über dem Leben des Propheten oder der Sexualität im Islam loszuflennen. Wir sahen uns einen Moment lang schweigend an, ich hätte ihn gerne gehasst, doch am liebsten hätte ich ihn in meine Arme geschlossen wie damals, als er klein war; er war jetzt vierzehn, ich streckte ihm noch ein zweites Mal die Hand entgegen, er drückte sie und sah traurig aus, sagte nur, auf ein andermal, das war’s, bis zum nächsten Mal, aber ich hatte das Gefühl, es sei ein Abschied für immer, mach’s gut, Kleiner, du hast Mama und sogar Papa, du hast Nour, der gerade zwölf geworden ist, und Sarah, die Jüngste, die jetzt mindestens zwei ist, du hast all diese Menschen um dich und sogar ein Lebensmittelgeschäft, das dich mit offenen Armen erwartet, eine strahlende Zukunft, die du mir verdankst, also, geh mir gefälligst nicht auf den Sack, ich hätte ihm gerne ein Buch zur Erinnerung geschenkt, aber er war schon verschwunden, Leute, die man beschimpfen will, machen sich immer zu schnell aus dem Staub, oder ich bin einfach zu langsam, beim Schimpfen wie beim Zuschlagen, ist schon möglich.
In dem Moment zitterte ich jedenfalls, als ich Bücherstapel auf- und abbaute, ich hatte eine irre Wut im Bauch, kapierte überhaupt nichts, wie üblich, ich begriff die Maßlosigkeit ihres Hasses nicht; ich erkannte nicht, dass mir einige Teile, Puzzlestücke, fehlten; ich dachte naiv, das alles hätte mit unserer Nacktheit zu tun, mit meiner und mit Meryems, mit nichts anderem, denn die Menschen sind Hunde, blind und bösartig wie mein Bruder Yassine, wie ich, bereit zuzubeißen, aber keinesfalls dazu, sich an einem Freitagmittag auf dem Vorplatz einer Moschee auszutauschen, ob in einem Vorort von Tanger oder sonst wo. Und um all diese Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte, wusste Cheikh Nouredine, der zu mir kam, kaum dass Yassine fortgegangen war, mich fragte, ob das mein Bruder gewesen sei, mit dem ich gesprochen habe, und der mir einen Blick voller Anteilnahme schenkte, mich mit einem Klaps auf die Schulter und ein paar Versen tröstete. Ich fühlte mich wieder wie ein Kind, das bedrückt und mit brennenden Augen nach seiner Mutter rufen will, der Mutter, die mir fehlte, während die Menge der Betenden in die Moschee eilte, und erst in diesem Augenblick begriff ich, dass ich keine Familie mehr hatte, dass ich Todesschreie ausstoßen konnte, so viel ich wollte, niemand würde mir helfen, niemals, nie mehr, und dass mein Erzeuger oder meine Erzeugerin, selbst wenn sie in dieser Menge wären, mich nicht beachten würden. Ich war so sehr mit mir selbst beschäftigt, ein verletztes Balg, dass ich völlig unfähig war, die Wellen des Unglücks zu erahnen, die sich um mich herum erhoben hatten.
Ich verkaufte ein Heldinnen des Islam an einen Typen, der es seiner Frau schenken wollte; ich erinnere mich daran, weil er mich fragte, ob
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