Straße der Diebe
Regen greifbar wurden: die unheilbare Melancholie der Hosenscheißer. Bassam lief auf Hochtouren wie ein aufgezogenes Uhrwerk, fuhr fort mit seinem Mannomann und nervte mich. Schnauze, Bassam, schrie ich. Halt bitte den Mund. Er hörte sofort auf, blieb mitten auf der breiten Straße stehen, begriff nichts. Ich brüllte, du hast recht, Mann, wir müssen weg, weg aus Tanger, weg aus Marokko, es ist nicht mehr auszuhalten hier.
Er sah mich an, als wäre ich ein Idiot, ein Schwachkopf, mit dem man vorsichtig umgehen muss.
Gedulde dich, sagte er, Gott ist mit denen, die geduldig sind.
Er zitierte den Propheten, vielleicht mit Ironie. Sollte Bassam zu Ironie fähig gewesen sein. Ich kam mir vor, als wäre ich plötzlich, ohne jeden Grund, vollkommen betrunken, in einer riesigen, gigantischen Besoffenheit versunken. Am Vorabend die Expedition mit der Gruppe, an diesem Abend Judit. Wenn das alles einen Sinn hatte, dann war er besonders rätselhaft.
Es regnete immer stärker, schließlich hielten wir ein vorbeifahrendes Taxi an, es kostete mich meine letzten Dirham.
Als Bassam zurück im »Haus der Verbreitung« war, begann er sofort, sich für das Gebet zu waschen. Ich rauchte einen Joint, er warf mir einen scharfen Blick zu. Du weißt, dass Cheikh Nouredine das nicht mag. Wir sollen rein sein.
Ich zeigte ihm einen passenden Finger, und er musste lachen.
Der Shit beruhigte mich ein wenig – ich hatte Judit in meinen Gehirnwindungen, ich erlebte den Abend noch einmal, ihr Lächeln, ihre Überlegungen zu Marokko, über den Arabischen Frühling, über Spanien, ich sah ihre nussbraunen Augen, ihre Lippen und Zähne im Großformat vor mir. Ich stürzte zum Internet, ich suchte sie auf Facebook, es gab zahllose Judits in Katalonien, manche ohne Foto, andere mit, keines glich ihr.
Schließlich landete ich auf Seiten, die Barcelona gewidmet waren, ich wanderte durch die Stadt, vom Hafen bis zu den Hügeln, ich ging die Ramblas hinauf, suchte die Universität, das Stadion von Barça, betrachtete die Fassaden von Gaudí; plötzlich stieß ich auf einen modernen und seltsamen Turm mitten in der Stadt, ein riesiges irisierendes Geschlechtsteil, einen bunt bemalten Phallus voller Büroräume, der auf das Meer blickte, ein übergroßes Geschlechtsorgan, bei dessen Anblick ich mich einen Moment lang fragte, ob es nicht der obszöne Witz eines verrückten Hackers war oder die überdimensionale Ausgeburt der Fantasie eines Pornoregisseurs, wie hatte man in einem so alten und schönen Stadtzentrum einen solchen Turm bauen können, eine Beleidigung, eine Provokation, ein Spiel, und dieses Gebäude schien für mich bestimmt zu sein, um mich schmerzhaft daran zu erinnern, was ich anstelle des Hirns hatte, vielleicht ein Vorzeichen, ein geheimnisvoller Fingerzeig des Schicksals, Barcelona stand unter dem Zeichen des Schwanzes, ich machte den Computer aus. Bassam war auf dem Teppich eingeschlafen; er lag auf dem Rücken, ruhig, schnarchte leise, mit einem kleinen Lächeln im Gesicht.
Ich ging zu Bett; die Nacht drehte sich ein wenig, es gab Sternschnuppen an der Decke, ich schlief ein.
Die Freitage waren immer anstrengende Tage, ich musste zwei- oder dreimal mit der Sackkarre hin- und herfahren, um die Bücher und CD s herbeizuschaffen, sie zuerst in der Moschee zwischenlagern, die Tischböcke, dann mit einem Helfer die Tischplatten nach draußen tragen, was schon gut zwei Stunden in Anspruch nahm. Über die Tische legte ich ein Papiertischtuch, danach musste ich die Bücher in hübschen Stapeln aufstellen und mehr oder weniger mit allem fertig sein, wenn zum Gebet gerufen wurde; Cheikh Nouredine begrüßte mich mit Handschlag, dann brachte er mir die Kasse und die Rollen mit nagelneuen Zehn-Centimes-Münzen, auf denen eine Biene in aller Ruhe an einer Safranblüte trank.
Natürlich musste ich mein Angebot fortwährend erneuern, die Kunden blieben meist dieselben. An diesem Vormittag hatte ich für meine Verkaufsstapel natürlich eine Kiste mit Sexualität und eine weitere mit Heldinnen mitgebracht, aber auch schöne Koran-Ausgaben mit Kommentaren am Rand, einige Werke von Sayyid Qutb, Das Leben des Propheten in zwei dicken Bänden, drei illustrierte Kinderbücher ( Das Gebet, Die Pilgerschaft, Das Fasten ) und ein hübsches Buch, das ich besonders mochte, Geschichten von den Propheten , mit Erzählungen von Noah bis Mohammed. Außerdem einige psalmodierte Versionen des Korans auf CD und DVD .
In der Regel warfen die Kunden einen
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