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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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hatte ein Handy, dessen Gesprächseinheiten immerzu aufgebraucht waren, aber ich konnte noch Anrufe entgegennehmen. Noch besser: Ich könnte ihr das Buch vorbeibringen (oder sogar mehrere Bücher, auch wenn ihr Rucksack schwerer würde – ich stellte sie mir eher mit einem Rucksack vor, dem Emblem der europäischen Jugend, als mit einem Rollenkoffer) und dem Buch besagte Nachricht beilegen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nichts aus dem Vorrat an mich genommen, ich las die Bücher, die mich interessierten, das war alles. Cheikh Nouredine würde sich nicht wegen ein paar fehlender Exemplare aufregen, dachte ich, schließlich war das Ziel der Gruppe die Verbreitung des koranischen Gedankenguts, das rechtfertigte mein Handeln.
    Ich wollte mich nicht so weit erniedrigen, den ganzen Abend vor ihrer Pension zu warten, bis sie auftauchten. Da musste ich hart bleiben, auch wenn die Versuchung groß war. Das Mittagessen schien kein Ende zu nehmen.
    Endlich erhoben sich der Cheikh und die ganze Mannschaft in seinem Gefolge; ich bedankte mich, er lächelte mir herzlich zu, ich nutzte die Gelegenheit, ihn zu fragen, ob er mir zweihundert Dirham Vorschuss für den nächsten Monat geben könne, auch fünfhundert, wenn du sie brauchst, antwortete er, und was hast du mit dem Geld vor? Ich wollte ihn nicht belügen, ich sagte ihm, ich hätte vor, einer Freundin ein Geschenk zu machen und sie zum Eisessen einzuladen, ich kam mir vor wie ein Kind, ein Jugendlicher, der seine Eltern um Geld fürs Kino bittet und sich Zigaretten davon kauft, er schien sich sehr über meine Offenheit zu freuen, er sagte, kein Problem, wenn es für eine edle Sache ist, und zog fünf Hunderter aus dem Geldbeutel, um so viel hatte ich gar nicht gebeten, es war ein Vermögen, die Hälfte meines Lohns. Du machst deine Arbeit gut, du bist einer von uns, du studierst viel, du hast auch das Recht, dich zu vergnügen. Mir gefiel diese fast brüderliche Freundschaft sehr, plötzlich schämte ich mich, sie auf die eine oder andere Weise zu verraten. Bassam sah mich neidisch an, Cheikh Nouredine hatte die Geldscheine in aller Öffentlichkeit hervorgeholt, für Bassam hatte er einen anderen Lohn, nämlich Gewalt und Gefahr.
    Freitagabend bis Sonntag war mein Wochenende; ich musste mich vor niemandem dafür rechtfertigen, wie ich die Zeit verbrachte. Meine Dankbarkeit gegenüber Cheikh Nouredine verriet viel von meiner Naivität, um nicht zu sagen von meiner Blödheit. Mein Denken war mit Rosenwasser parfümiert. Wie ein spanisches Sprichwort sagt: Eine Schweineborste hält besser als Betonstahl . Ich kehrte zusammen mit den anderen ins »Haus der Verbreitung« zurück, sie bereiteten eine Versammlung vor, von der ich befreit war, umso besser für mich; einmal ist keinmal, statt sich still auf die Teppiche zu setzen, schlossen sie sich ausnahmsweise mit Verschwörermienen im kleinen Büro des Cheikh ein. Ich vermutete zwar, dass das mit dem Attentat zu tun hatte, von dem Bassam mir am Vorabend erzählt hatte, aber ich hätte mir nicht vorstellen können, dass es dabei um einen richtigen Anschlag ging, und schon gar nicht um Gewalt, wie sie zynischer und paranoider nicht hätte sein können. Die Tatsache, dass die »Gruppe zur Verbreitung des koranischen Gedankenguts« sich großer Anerkennung erfreute, garantierte, so dachte ich, dass sich ihre Umtriebe innerhalb der (zugegebenermaßen laschen) Grenzen des Gesetzes bewegten.
    Ich nahm drei Bücher, die ich ziemlich billig in Zeitungspapier einwickelte (aber gut, das Blatt war auch in Arabisch, und es passte zum Thema), und ging hinaus. Ich hatte für mich vorsichtshalber einen Krimi eingesteckt; wenn die Mädchen nicht auftauchten, würde ich mich darüber hinwegtrösten, indem ich den Zaster des Cheikh auf den Kopf haute, las und dabei Bier trank.
    Ich machte mich auf den Weg zu ihrem Hotel, fest entschlossen, letzten Endes vor der Pension auf und ab zu wandern, bis sie auftauchten. Woraus folgt, dass mir jede moralische Festigkeit fehlte.

In jener Nacht hatte ich meinen ersten Albtraum, ich meine, den ersten echten Albtraum im Erwachsenenalter, nachdem ich den späteren Nachmittag und den Abend mit Judit verbracht hatte und dann natürlich traurig war, sie ein weiteres Mal davongehen zu sehen, aber auch glücklich, sie wiedergesehen zu haben. Es war kein erotischer Traum, der mir erlaubt hätte, bei der Frau zu sein, die ich gerade verlassen hatte, sondern ein grauenhafter Traum, in dem mein kleiner Bruder

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