Straße der Diebe
vorkam, den ich am selben Vormittag gesehen hatte, eine Höllenvision, die sich in nahezu gleicher Weise bis zum heutigen Tag wiederholt; der Inhalt des Traums ändert sich kaum, nur seine Form – die Gewalttätigkeiten, die Farbe, die Bilder der Angst bleiben beharrlich dieselben, man gewöhnt sich nie daran, trotz ihrer Häufigkeit: das Hängen, ob man mich selbst hängt oder ob ich auf einen Gehängten stoße, der noch zappelt; das Meer, durch das sich plötzlich eine rote Strömung zieht, die immer dicker wird, in der ich schließlich beim Baden ertrinke; die Vergewaltigung, bei der zum Skelett abgemagerte Greise lachend in mich eindringen, ohne dass ich mich bewegen oder schreien kann, alle diese Szenen brechen auf dem Höhepunkt damit ab, dass ich atemlos aufwache, oder sie setzen sich im Gegenteil endlos fort mit einem langen Todeskampf bei der Betrachtung des Leichnams einer vertrauten Person, der in der Luft schwebt, dem verzweifelten Schwimmen in den Wellen aus Blut: Die Frauen, die mich schlafend erlebt haben, erzählen, dass ich Ewigkeiten ächzen kann, dabei den Kopf in den Armen vergrabe oder mich unter erstickten Schreien von einer Seite auf die andere werfe. Die Reihenfolge der Szenen kann variieren, manche fehlen bisweilen und kommen dann unversehens wieder, ohne dass es mir je gelungen wäre, den Grund für ihr Wiederauftauchen zu begreifen.
Ich wachte mitten in der Nacht auf mit diesen Bildern, und einen Moment betete ich stumm im Dunkeln, mein erster Reflex gegen die Angst war das Gebet, ich flehte zu Gott, und bevor ich mit dem Anknipsen des Lichts die Bilder in meinem Kopf durch die vertrauten Gegenstände in meinem winzigen Zimmer ersetzte, hätte ich alles dafür gegeben, dass jemand bei mir läge. Ich brauchte lange, bis ich mich beruhigt hatte. Ich klammerte mich an Judits Gesicht. Sie hatte mir versprochen, dass sie auf dem Rückweg in fünf Tagen über Tanger kommen würde, dass sie mir Mails schreiben würde, um mir von ihrer Reise zu erzählen. Mit der Erinnerung an Judit erlosch der entsetzliche Traum allmählich. Ich hätte sie gerne nach Marrakesch begleitet, ich war dort noch nie gewesen. Der Gedanke war seltsam, dass die beiden meine Heimat bald besser kennen würden als ich. War das überhaupt meine Heimat? Meine Heimat war Tanger, zumindest glaubte ich das; doch im Grunde genommen, das hatte ich im Laufe des Nachmittags begriffen, war Judits Tanger nicht dasselbe wie meines. Sie sah die internationale, die spanische, französische, amerikanische Stadt; sie kannte Paul Bowles, Tennessee Williams oder William Burroughs, so viele Schriftsteller, deren Namen, so fern sie waren, mir verschwommen etwas sagten, von denen ich aber überhaupt nichts kannte. Nicht einmal Mohamed Choukri, eine Persönlichkeit aus Tanger, den ich zwar einordnen konnte, von dem ich aber natürlich nie auch nur eine Zeile gelesen hatte. Ich war sehr erstaunt, als ich erfuhr, dass man seine Romane im Fach Moderne Arabische Literatur an der Universität von Barcelona studierte. Wenn ich mit Judit über Tanger sprach, kam es mir vor, als redete ich von einer anderen Stadt, es waren zwei Bilder, zwei einander fremde Gebiete, verbunden durch denselben Namen, ein Missverständnis aufgrund der Namensgleichheit. Sicher, Tanger war weder das eine noch das andere, weder die internationale Stadt aus den alten Geschichten noch mein Vorort, weder Tanger-Med noch die Freihandelszone. Jedenfalls hatte ich den ganzen Nachmittag und einen Gutteil des Abends, als ich mit Judit und Elena herumspazierte, nachdem ich ihnen zweihundert Meter von ihrem Hotel entfernt mit meinem Päckchen unter dem Arm praktisch zufällig über den Weg gelaufen war, das merkwürdige Gefühl der Entfremdung. Zum Beispiel war es letztlich Judit, die mir die Geschichte der Altstadt erklärte: Sie kannte die Plätze, sie suchte und fand Spuren, Orte der Erinnerung; sie war es, die mir schließlich in einer zufällig bei unserem Spaziergang entdeckten Buchhandlung eine arabische Ausgabe von Choukris Nacktes Brot schenkte. Ich wollte zeigen, dass ich auch Dinge wusste; ich versuchte, wenigstens witzig zu sein, einen intelligenten Eindruck zu machen, doch mein nicht sehr flüssiges gesprochenes Französisch und ihre vollkommene Unkenntnis des Marokkanischen ließen mich unbeholfen, ein wenig derb, nuancenlos aussehen; ich hatte das Gefühl, manchmal ganz eindeutig wie ein Idiot zu erscheinen. Also gab ich mir große Mühe, mich in klassischem Arabisch zu
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