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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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Nachmittag über gefragt hatte, ob ich nicht versuchen sollte, Judit betont lässig einen Kuss auf die Lippen zu drücken, und Elena, als wir an diesen Punkt gelangten, ein wenig im Hintergrund blieb, ein wenig unsichtbar im Schatten des vorkragenden Balkons, an dem noch immer dieses scheußliche Neonlicht blinkte, als wir jenen Augenblick erreichten, in dem Menschen sich zärtlich anschauen, weil sie auseinandergehen und ihnen nur die Erinnerung bleibt, in dem das Begehren sich umso stärker bemerkbar macht, als es ahnt, wie wenig es angesichts der Abreise seines Objekts ausrichten kann, standen wir einander schweigend gegenüber, und ich war nicht imstande, irgendetwas zu tun, ich hätte höchstens davonlaufen können, so überwältigt war ich vom ganzen Gewimmel meiner romantischen Gedanken, und doch wäre es an der Zeit gewesen, mich wie ein Mann zu verhalten, wie ein Mann auf sie zuzugehen und sie auf den Mund zu küssen, denn darauf hatte ich Lust, davon träumte ich, und wenn wir uns nicht bemühen, unsere Träume zu verwirklichen, verschwinden sie, nur die Hoffnung und die Verzweiflung, und beide im gleichen Maß, verändern die Welt, nur die Leute, die sich in Sidi Bouzid den Flammentod geben, diejenigen, die sich auf dem Tahrir-Platz den Knüppeln und den Kugeln entgegenstellen, und die, die es wagen, einer spanischen Studentin auf der Straße einen Zungenkuss zu geben, das hat natürlich nichts miteinander zu tun, aber ich hätte in dieser Stille, in diesem Augenblick zwischen zwei Welten, ebenso viel Mut gebraucht, Judit zu küssen, wie vor einem libyschen Militärjeep »Gaddafi! Du Scheißkerl!« zu brüllen oder allein mitten im Königspalast von Rabat »Es lebe die Republik Marokko!« zu rufen, doch dieser Augenblick zog sich in die Länge, wir hatten uns gerade »Auf Wiedersehen« gesagt, und natürlich war sie es, die schließlich ihr Gesicht meinem näherte und mir einen zweideutigen, verwirrenden Kuss auf den Mundwinkel drückte, einen Kuss, der ebenso als Ungeschicktheit wie als Pfand ausgelegt werden konnte, jedenfalls spürte ich ihren Atem und ihre sanften Lippen so nahe, dass ich mich, nachdem ich einen Augenblick ihre beiden Hände gedrückt hatte, umdrehte wie ein Zinnsoldat und fortging, fast davonrannte, in die Welt der Albträume.
    Mit Zweifeln. Mit Gewissheit.
    Das »Haus der Verbreitung des koranischen Gedankenguts« war verlassen, von Bassam keine Spur.
    Ich setzte mich sofort vor den Computer, ich holte das Zeitungsstück hervor, auf dem sie mir ihre E-Mail-Adresse notiert hatte, ich schrieb ihr einen langen, leidenschaftlichen Brief, den ich Zeile für Zeile, Stück für Stück wieder löschte, bis zu guter Letzt nur noch »Gute Reise! Ich küsse dich und bis bald, hoffe ich!« übrig blieb. Ich schickte ihr dieselbe Botschaft auf Facebook, Judit Foix; schade, dass sie ihrem Profil kein Foto beigefügt hatte.
    Am nächsten Morgen nahmen sie um halb acht den Zug nach Marrakesch, wo sie nach zehn Stunden Zugfahrt und einmal Umsteigen in Casablanca ankommen würden; ich nahm an, dass sie gegen sieben Uhr abends im Hotel sein müssten, Judit würde vielleicht nicht gleich ins Netz gehen, sie würde etwas Zeit brauchen, um ein Internetcafé oder ein Wi-Fi zu finden, ich konnte also frühestens gegen einundzwanzig Uhr mit einer Antwort rechnen. Wenn sie mir überhaupt antwortete. Eine Weile überlegte ich, ebenfalls den Zug zu nehmen und sie nach Marrakesch zu begleiten; der Fahrschein kostete zweihundert Dirham, mit dem Bus vielleicht etwas weniger, aber danach hätte ich ein Hotel bezahlen und essen müssen, und ich kannte niemanden dort, Cheikh Nouredines Vorschuss wäre in zwei Tagen aufgebraucht gewesen. Und vor allem hatte ich Angst, das wenige, was ich gewonnen hatte, durch zu viel Druck zu verderben. Ich musste mich einfach gedulden. Ihr schreiben, und auch das nicht zu oft.
    Nach einer immer wieder von Albträumen unterbrochenen Nacht mit Gehängten und blutigen Wellen ging ich am nächsten Morgen ans Meer; ich verbrachte einen Großteil des Tages damit, auf einem Felsen sitzend einen Krimi zu lesen; eine schöne Aprilsonne wärmte den Damm. Es gelang mir, mich auf mein Buch zu konzentrieren; bisweilen hob ich die Augen von der Seite, um in der Ferne die Fähren zwischen dem neuen Hafen und Tarifa oder Algeciras zu beobachten.
    Am Abend schaute ich spanisches Fernsehen, zappte zwischen andalusischen und spanischen Sendern und versuchte die Sprache aufmerksam zu verfolgen, sie

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