Straße der Diebe
aufzusaugen; von der Gruppe ließ sich keiner blicken, weder Bassam noch Cheikh Nouredine. Ich sah, Gott weiß wie oft, in meinen elektronischen Briefkasten, keine Nachricht von Judit; schließlich ging ich ins Bett und konnte sogar einschlafen.
Eine unruhige Nacht: Albträume; ständig das Bild des Gehängten. Beim Aufstehen eine Nachricht von Judit; sie schreibt, Marrakesch sei wunderbar, voller Leben, geheimnisvoll und umtriebig. Die Zugreise sei sehr angenehm gewesen, Marokko ein fantastisches Land. Sie umarmte mich ebenfalls fest und auf die Schnelle.
Ich antwortete sofort.
Ich erinnere mich nicht mehr, was ich an jenem Tag noch unternahm, als hätte das überaus strahlende, viel zu stürmische Ereignis des Abends zuvor alles andere in den Schatten, ins Gegenlicht gestellt. Wahrscheinlich habe ich wie üblich gelesen, bin ein wenig spazieren gegangen, im Internet unterwegs gewesen.
Abends um halb acht saß ich vor dem Fernseher; ich sah Aufnahmen von einem zerstörten, zerfetzten Café, zersplitterte Tische, herumliegende Stühle; Bilder von der Djemaa el Fna, dem alten Marktplatz von Marrakesch, zur Hälfte leergefegt von Menschen, nur in einer Ecke hatten sich Gaffer versammelt, die von einem Polizeikordon in Schach gehalten wurden; Krankenwagen und Feuerwehrautos rasten mit heulenden Sirenen heran und davon, und im ersten Stock sah man eine Terrasse und ein zerstörtes Dach, ein halb aus seiner Verankerung gerissenes Schild, auf dem auf Französisch und Arabisch Café Argana zu lesen war. Die fortlaufenden Untertitel des spanischen Nachrichtensenders meldeten Atentado en Marrakech: al menos 16 muertos . Ich verbrachte den Abend zwischen Bildschirm und Internet, um mehr darüber zu erfahren – gegen zehn Uhr war ich beruhigt, unter den Opfern waren keine Spanier, es waren mehrheitlich Franzosen. Den Nachrichtenseiten im Netz zufolge handelte es sich tatsächlich um ein Bombenattentat, nicht um einen Selbstmordattentäter, wie man anfangs vermutet hatte. Auf einem besonders grässlichen Foto war zwischen den Trümmern der Leichnam eines Mannes zu sehen; diese Aufnahme war auf allen Seiten im Netz. Die Terroristen waren noch nicht gefasst; französische und spanische Polizisten würden kommen, um ihre marokkanischen Kollegen zu unterstützen. Präsident Sarkozy sprach den Familien sein Beileid aus, der König ebenso.
Obwohl ich wegen Judit beruhigt war, riefen die Bilder Entsetzen in mir hervor. Die Zahlen kamen in der Nacht, sechzehn Tote, darunter acht Franzosen. Eine Katastrophe für Marokko, hieß es in den Zeitungen. Wegen der politischen Unruhen war die Zahl der Touristen bereits zurückgegangen, dieses Massaker würde sie nicht zum Kommen ermutigen. Angesichts der vielen Opfer schien es mir ziemlich taktlos, über Wirtschaft zu reden.
Irgendwie hoffte ich, dass Bassam mit alldem nichts zu tun hatte. Er war noch immer nicht ins »Haus der Verbreitung« zurückgekehrt; weder er noch der Cheikh noch sonst wer. Mir fiel ein, dass er zwei Abende zuvor von einem Attentat geredet hatte, das die Menschen vor den Kopf stoßen, zur Konfrontation zwingen würde – unmöglich.
Ich schrieb eine neue Mail an Judit, erkundigte mich nach ihrem Befinden; sie antwortete fast umgehend, es gehe ihnen gut, sie seien auf dem Platz gewesen, als sich die Explosion ereignete, aber recht weit entfernt, sie hätten große Angst gehabt, seien ziemlich schockiert und fragten sich, ob sie nicht direkt nach Hause zurückkehren sollten. Elenas Eltern waren sehr besorgt, sie meinten, es bestünde die Gefahr weiterer Attentate, und verlangten von ihrer Tochter, dass sie Marokko sofort verlasse. Sie würden deshalb vielleicht nicht mehr nach Tanger kommen, um wie vorgesehen von dort zurückzufliegen.
Eine kleine Entschädigung: Die Mail endete mit: »Ich umarme Dich, ich denke an Dich.« Bei diesen Worten wurde mir warm ums Herz.
Es war Sonntag, ich ging auf die Terrasse eines Cafés an der Place de France; alle sprachen über das Attentat, und dabei dachten sie sicher, dass auch wir hier in die Luft gejagt werden konnten. Ich fragte mich, ob dieser tote Mann auf der Terrasse des Cafés noch etwas gespürt hatte, ob er begriffen hatte, was geschehen war, bevor mit dem Donnerschlag alles schwarz wurde.
»Das ist das erste Mal, dass ich jemanden in einem Café in Tanger einen Roman aus der Série Noire lesen sehe.«
Die Stimme ertönte hinter meinem Rücken und sprach französisch. Ich drehte mich um, ein kahlköpfiger Mann in
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