Straße der Diebe
führten; eine Schweinerei des Schicksals. Sie schrieb mir, dass sie mich liebe, nannte mich ihren Geliebten, sie sagte, wir müssten heiraten, sonst müsse sie das Kind in ein Waisenhaus geben; ihre Verzweiflung war zu viel für mich, ich verbrannte den Brief zusammen mit dem Bassams im Waschbecken des Hotelzimmers,
.
Ich werde nie erfahren, was sich dort im Rif zwischen Al-Hoceima und Nador abgespielt hat, niemand wird es je erfahren. In seiner kindlichen Handschrift erklärte mir Bassam Einzelheiten mit fremdartigen medizinischen Begriffen. Er schrieb nichts von sich, doch um einen solchen Brief zu schreiben, musste er felsenfest überzeugt gewesen sein, dass auch er sterben würde; warum sonst hätte er mir durch den Brief gesagt, was er mir am Abend noch persönlich hätte erklären können.
Ich wanderte in meinem Zimmer umher; langsam wurde es dunkel. Ich drehte mir einen Joint, rauchte ihn auf dem Balkon; ich schaltete den Computer an; ich suchte im Internet nach Informationen über das Attentat, über die »Gruppe zur Verbreitung des koranischen Gedankenguts«; nichts Neues. Tateinzelheiten, Angaben zur Bombe, zur Art des Sprengstoffs, aber keine Verhaftung. Ich entdeckte eine zweizeilige Pressenotiz, Brandstiftung in einer religiösen Buchhandlung, Hunderte Bücher zerstört. Ein Verbrechen. Die Polizei musste sich doch fragen, warum kein Mitglied dieser Vereinigung je wieder aufgetaucht war.
Der Muezzin hatte gerade zum Abendgebet gerufen.
Ich erhielt eine Mail von Judit, die sich dafür entschuldigte, dass sie zuvor so wortkarg gewesen sei, sie sei erschöpft gewesen. Wenn ich Lust auf einen Tee hätte, könnte ich sie im Hotel abholen.
Seltsamerweise hatte ich keine Lust mehr. Ich hatte zu nichts mehr Lust.
Ich ging zum Waschbecken, ich wusch mich ausgiebig, die Füße, die Hände, den Brustkorb, das Gesicht. Ich legte die Bettdecke auf den Teppich, nach Osten gerichtet, und betete. Ich warf mich viermal nieder, ohne an etwas anderes zu denken als an Gott.
Die Nacht war angebrochen, und sie sah herunter auf die Lichtstreifen der Fähren nach Tarifa.
Beim Sprechen der Al-Fatiha, beim Hauchen der Verse ohne Ablenkung durch irgendwelche Gedanken, beim Wiederholen der heiligen Worte fand ich meine Ruhe wieder.
Der Stille wohnte eine besondere Kraft inne, ein kostbarer Gesang.
Das habe ich mir bewahrt.
Zur Linken meiner improvisierten Qibla leuchtete die spanische Küste.
Ich fragte mich, ob die Kohle reichen würde, um eine illegale Überfahrt nach Spanien zu bezahlen. Ich war immer mehr davon überzeugt, dass Cheikh Nouredine dieses Geld für mich zurückgelassen hatte. Anders war es nicht zu erklären; sicher hatte er Mitleid mit mir. Er kannte die schreckliche Geschichte von Meryem und meiner Tante. Mich hatte er immer gerecht und gut behandelt. Im Grunde hoffte ich, dass sie nichts mit Marrakesch zu tun hatten, nicht der Cheikh und nicht Bassam; leider ließ mir das, was ich selbst mit ihnen erlebt hatte, ließen mir die Knüppel und die Gebete wenig Hoffnung.
Was sollte ich in Spanien anfangen? Natürlich gab es da meinen Onkel, der in der Provinz von Almería arbeitete, aber ihn zu besuchen lohnte die Mühe nicht. Und zudem befand sich Spanien in der Krise. Es mangelte an Arbeit. Ich hatte sowieso keine Papiere. Sollte ich aufs Geratewohl aufbrechen?
Ich dachte, Paris wäre gnädiger. Paris oder Marseille, die Städte aus den Büchern und Kriminalromanen. Ich stellte sie mir ziemlich ähnlich vor, bevölkert mit den Söhnen brummiger Italiener, draufgängerischer Algerier und Ganoven, die Argot sprachen. Ich war fünfzig Jahre zu spät dran, aber egal, irgendetwas davon musste noch übrig sein, schließlich hatte Jean-Claude Izzo Total Cheops erst vor kurzer Zeit geschrieben, meinte ich. Ich stellte mir vor, dass ich ihn besuchen, ihm eine Nachricht schicken würde, Sehr geehrter Herr, ich bin ein junger marokkanischer Fan und würde Sie gerne kennenlernen . Als ich bei Wikipedia nachsah, stellte ich fest, dass er tot war. Auch Jean-Patrick Manchette war längst gestorben. Außer einigen fernen und beschränkten Vettern kannte ich niemanden in Frankreich.
Zuerst einmal musst das Dringendste erledigt werden: eine Unterkunft finden, die nicht ein Heidengeld kostete wie dieses Zimmer, Kleidung kaufen, zu arbeiten anfangen. Der Sache mit dem Abschreiben von Texten sah ich mit Neugier entgegen. Einen Pass beantragen, für alle Fälle. Auf neue Nachrichten von der Polizei warten, die
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