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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Enard
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irgendwann kommen mussten; lesen, so viel ich nur konnte, um mich zu bilden. Meryem vergessen, Bassam und Cheikh Nouredine vergessen.
    Mir ein Programm machen.
    Einen Plan haben.
    Für die Zukunft arbeiten.
    Zwanzig ist eben doch das schönste Lebensalter.
    Ich hatte eine neue Nachricht von Judit auf Facebook, sie war vier Minuten alt, da stand, du kommst also nicht?, bin gleich da, antwortete ich.

Lakhdar, sagte Judit mitten in der Nacht zu mir. Lakhdar, und ich liebte ihre Art, meinen Namen auszusprechen, ihren leichten spanischen Akzent, ihr Beharren auf den Buchstaben dad , den es im Arabischen eigentlich nicht gibt.
    »Lakhdar ist kein häufiger Name, oder?«
    Ich lehnte mit dem Kopf an ihrer Schulter.
    »Nein, er ist eher selten in Marokko. Aber in Algerien ist er sehr geläufig. Mein Vater liebte diesen Vornamen, warum, weiß ich nicht.«
    »Was bedeutet das, außer ›das Grün‹?«
    »Eigentlich hat Lakhdar zwei Bedeutungen, ›grün‹ natürlich, aber auch ›blühend‹. Grün ist die Farbe des Islam. Vielleicht hat mein Vater ihn deshalb gewählt. Es bezeichnet auch einen Propheten, der für die Mystiker wichtig ist. Le Khidr, der Grüne. Er kommt in der Sure Die Höhle vor.«
    »Lakhdar. Ich werde dich Grüne Hornisse nennen.«
    »Du bist schöner als Cameron Diaz.«
    Und sie fasste vorsichtig meine Hand und schob sie hinunter zu ihrem Schoß.

Die folgenden Wochen und Monate bis November und meine Anfänge als Kellner auf den Fähren der Comarit-Schifffahrtsgesellschaft vergingen so schnell, dass die Erinnerungen entsprechend knapp ausfallen. Die Arbeit für Jean-François war mühsam, trocken und stumpfsinnig; mein Zimmer, auf halbem Weg zwischen dem Zentrum und der Freihandelszone, war kalt und unwirtlich; ich teilte die Wohnung mit drei Arbeitern, die etwas älter waren als ich, die aber, wie ich spürte, nie mein Alter gehabt hatten. Sie kamen mir unendlich beschränkt vor. Sobald sie einige Dirham zusammenhatten, mussten ein neuer Jogginganzug, neue Turnschuhe, Shit her; sie malten sich ein schönes Leben aus, dessen Höhepunkt der Kauf eines Doppelbetts bei einem Möbelhändler um die Ecke und der eines Wagens beim Nissan- oder Toyota-Händler war; sie surften jeden Tag auf voitureaumaroc.com und träumten von Luxusschlitten, die sie sich nie würden leisten können, schau mal, da gibt es einen Jaguar von 1992 für hunderttausend Dirham; ihre Gesichter verschwanden hinter riesigen Sonnenbrillen, und sie hatten stets die Bluetooth Headsets ihrer Handys am Ohr. Sie waren aalglatt, austauschbar und laut. Aber sie leisteten mir Gesellschaft, brachten Leben in die Bude; sie baggerten die Arbeiterinnen aus den Textilfabriken an, die kleinen zarten Hände, die von der Vibration der Nähmaschinen schmerzten, oder wenn nicht diese, dann die Fischmädchen aus der Tiefkühlfabrik, die vom Kinn bis zum tiefsten Punkt in ihren Mösen nach Barsch oder Krabben rochen, und alle waren sie empfänglich für die vulgäre Anmache meiner Mitbewohner mit ihren falschen Ray-Bans, die sie mit großem Pomp, wie Prinzessinnen, zum Hamburger-Essen in ein Lokal der großen amerikanischen Ketten ausführten, weil man dort ein wenig das Gefühl bekam, am Leben teilzuhaben, am wahren Leben, nicht dem der kleinen Ganoven, der Prolls, die nicht das Glück hatten, in der Freihandelszone zu arbeiten, und deshalb nicht nur weniger, viel weniger verdienten, sondern vor allem weit weniger vornehm aussahen, da sie weder Sonnenbrillen noch Luxushandys besaßen, und dieser ganze Zirkus wirkte wie eine riesengroße Verschwendung, weit, meilenweit entfernt von den Vierteln, in denen ich aufgewachsen war, aber auch noch weiter entfernt von denen, in denen ich gerne leben wollte.
    Wie dem auch sei, ich hatte wenig Freizeit und kaum Zeit, mich mit meinen Mitbewohnern zu unterhalten, die Arbeit war schrecklich vereinnahmend und ähnelte der Galeere an der Nähmaschine oder, abgesehen vom Geruch, der des Gambas-Schälens: Ich verbrachte zwölf bis sechzehn Stunden täglich vor dem Bildschirm mit gebeugtem Rücken wie ein Bohnenpflücker und schrieb mit meinen vier oder sechs Fingern kulinarische Enzyklopädien, handschriftliche Briefe und archivierte Texte getreu ab, alles, was Monsieur Bourrelier mir gab. Der Job hatte den richtigen Namen: kilometrische Texterfassung, Kilometerarbeit, genauer gesagt, doppelte Texterfassung, denn diese stumpfsinnige Arbeit wurde zweimal gemacht, von zwei verschiedenen Dumpfbacken, dann legte man die

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