Straße der Diebe
versuchte, ein wenig in Nacktes Brot zu lesen, es gelang mir nicht, die Bilder von Zahras Scham drängten sich zwischen das Buch und mich. Sie blieben noch lange in dieser Nacht, auch noch, nachdem ich das Licht gelöscht hatte.
Ich frage mich, ob Ibn Battuta hofft, eines Tages nach Marokko zurückzukehren, als er 1335 Tanger Richtung Osten verlässt und zu seiner großen Reise aufbricht, oder ob er an ein endgültiges Exil glaubt. Er verbringt mehrere Jahre in Indien und auf den Malediven im Dienst einer Sultanin, die ihn zum Richter, Kadi, ernennt, sicher weil er ein gelehrter Mann ist und Arabisch spricht; er heiratet dort sogar die Tochter des Wesirs. Beim Verlassen des Inselreichs nach einem kurzen Aufenthalt in einer Stadt, in der die Frauen nur eine Brust haben, trifft er einen Mann, der sich mit seiner Familie einsiedlerisch auf eine Insel zurückgezogen hat, und beneidet ihn; er besitze, sagt er, ein paar Kokospalmen und ein Boot, mit dem er fischt und zu den Nachbarinseln fährt, wenn er es wünscht. Bei Gott , sagt er, ich beneide diesen Mann, und wenn diese Insel mir gehört hätte, hätte ich mich bis ans Ende meiner Tage dort niedergelassen. Zuletzt kehrt Ibn Battuta nach Marokko zurück, und ich stelle mir vor, dass er seine Tage in einem kleinen Kloster von Derwischen beschließt, wo er Frieden findet, während er vielleicht seinen Reisebericht schreibt oder seine Abenteuer in Übersee jedem erzählt, der sie hören will. Ich weiß nicht mehr, ob in seinen Erinnerungen, so wie sie uns überliefert sind, von Prostituierten die Rede ist; Ibn Battuta hatte Sklaven, Sängerinnen und einige Ehefrauen, die er im Verlauf seiner Reise geheiratet hat, während mir später in Barcelona, mitten unter Nutten und Dieben, im Rauch der brennenden Container, zwischen den Knüppeln behelmter Polizisten, häufig und, wie ich gestehen muss, mit Bedauern Erinnerungen an Zahras mageres Gesicht und ihre Möse kamen, eine traurige Geschichte mehr, die ich meiner Liste hinzufügen muss, eine zweifelhafte Reue, was für ein Mann war ich eigentlich, dachte ich in meiner Jugendlichkeit, wenn ich nicht imstande war, mich einer Frau zu erfreuen, die ich bezahlt hatte und die mir zwischen schwarzen Strümpfen ihren herben Intimbereich darbot; mehr als einmal habe ich gezögert, der Prostituierten, die unentwegt auf der Schwelle des Gebäudes neben meiner Unterkunft im Barrio el Raval in Barcelona hockte, zwanzig oder dreißig Euro zu geben und mit ihr hochzugehen, nur um meine Selbstachtung und mein Selbstvertrauen wiederzufinden, von dem der größte Teil bei der kleinen Zahra und der lachenden Wirtin zurückgeblieben war. Zum Glück war ich an jenem Abend in Tanger allein; es hätte mir gar nicht gefallen, wenn Bassam sich mit der Uhr in der Hand schiefgelacht hätte, weil ich nach zwei Minuten die Flucht aus der Kammer mit dem grünen Sofa ergriff. Männer sind Hunde, die sich in ihrer Einsamkeit einen runterholen, nur die Hoffnung auf Judit war ein kleiner Glanz im Elend, selbst wenn diese Hoffnung, zaghaft, wie ich war, von den Erinnerungen an Meryem bestürmt wurde, ich würde gewiss zittern, bevor ich sie umarmte, beben, bevor ich mit ihr schlief, sollte sich die Gelegenheit dazu ergeben, und je näher dieses Wunder rückte – nur wenige Stunden trennten mich noch von ihrer Rückkehr nach Tanger, als ich am frühen Morgen auf meinem Balkon stand –, umso größer wurde meine Angst davor. Die Ereignisse der letzten Tage drehten sich in meinem Kopf, die Trümmer meiner Albträume röteten den Dunst des Morgengrauens über der Meerenge.
Das Feuer im »Haus der Verbreitung« ging mir ständig durch den Kopf, ich fragte mich, wie viel Zeit mir blieb, bis die Polizei mich festnehmen würde.
Ich kam mir vor wie auf der Flucht.
Trotz meiner neuen Arbeitsstelle, trotz des Geldes, das ich als Vorschuss hatte, war ich ratlos, unruhig, so hilflos wie bei Zahra am Abend zuvor; der Hut war mir zu groß. Mir fehlten eine Mutter, ein Bruder, ein Vater, ein Cheikh Nouredine, ein Bassam.
Judits Ankunft war das reinste Desaster.
Ich hätte vielleicht nicht zum Bahnhof gehen sollen, um sie zu überraschen; ich hätte sie nicht schwindelig reden sollen, ich hätte nicht so tun sollen, als hätten wir eine vertraute, enge Beziehung, die es nicht gab – ich hatte es zu eilig, hatte mir, nach Bassams Art, allein und auf die Schnelle eine Geschichte zusammengeschustert, die es nicht gab, ohne mich darum zu kümmern, was sie vielleicht in
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